Montag, 30. September 2024

Unser Zuchtstier Bismarck wird prämiert, September 1924

«Noch bis in die 1860er Jahre waren die beiden Hauptrassen Braun- und Fleckvieh ziemlich getrennt. Während im Zürcher Oberland und in der Seegegend Braunvieh vorherrschte, hielten das Wehntal und die Bezirke Bülach, Winterthur und Andelfingen mehr Fleckvieh. Im Allgemeinen war der Viehstand aber buntscheckig, von allen möglichen Farben standen in demselben Stalle. Zuchtstiere hatte es viel zu wenig und zumeist minderwertige Ware. Man hielt das Vieh meist so lange, als es irgend möglich war.» (Der Freisinnige, 11. Oktober 1924)

Etwas mehr als ein halbes Jahrhundert später konnte man den Erfolg der Landwirtschaftlichen Vereine sowie grosser Züchter (Maggi-Gutsbetrieb Kemptthal, Kloster Einsiedeln, Strafanstalt Regensdorf, etc.) anlässlich verschiedener grösserer und kleinerer Viehschauen begutachten. 

Simmental rules!

Vor 100 Jahren war Weiach nicht zuletzt dank seiner Viehzuchtgenossenschaft (V.Z.G.) eine Fleckvieh-Gemeinde, die immer wieder Blutauffrischungen aus dem Bernbiet zugekauft hat. Dafür sorgte die 1909 gegründete V.Z.G. Weiach, die explizit den Zweck verfolgte, die «Simmenthaler Fleckviehrasse» voranzubringen (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 117).  

Im September 1924 wurde in Winterthur eine grosse kantonale Landwirtschaftsausstellung ausgerichtet. Aufgeführt wurden sowohl Braunvieh wie Fleckvieh, da beide Schläge im Zürichbiet ihre Anhänger hatten.

Die dort preisgekrönten Fleckvieh-Zuchtstiere trugen mehrheitlich traditionelle Männernamen wie Felix, Ferdi (Ferdinand), Franz (2x), Gerold, Hans/Hansli, Köbel (Jakob), Ruedi oder Sepp (Josef). Aber es gab auch ungewöhnlichere, wie Amor, Cyrus, Hektor, Mäder, Nero, Regent und Sultan. 

Bismarck und Hindenburg

Und wo wir schon bei mächtigen Männern sind, da konnten damals auch die Schwergewichte aus dem Deutschen Reich nicht fehlen: die Viehzuchtgenossenschaft Weiach führte ihren Stier «Bismarck» nach Winterthur und die Eglisauer VZG ihren «Hindenburg». Ob man in Grenznähe wohl auf Kundschaft aus dem Süddeutschen gehofft hat?

Jedenfalls hatten die Weycher und Eglisauer sich politische Schwergewichte ausgesucht: Otto von Bismarck (1815-1898), mit vollem Namen Otto Eduard Leopold von Bismarck-Schönhausen, ab 1865 Graf von Bismarck-Schönhausen, ab 1871 Fürst von Bismarck, ab 1890 auch Herzog zu Lauenburg. Und Paul von Hindenburg (1847–1934), mit vollem Namen Paul Ludwig Hans Anton von Beneckendorff und von Hindenburg, deutscher Generalfeldmarschall und Reichspräsident.

Und dann sind da noch unspektakulärere, aber schweizerischere Namen wie «Demokrat» (VZG Brütten) und «Egal» (was uns die VZG Weiningen damit wohl sagen wollte?).

NZZ, 30.9.1924

Hauptsache kräftige Namen

Bei den Braunvieh-Zuchtstieren waren ebenfalls Bezeichnungen Trumpf, die Macht, Kraft und Herrschaft transportieren:  Attilla, Goliath, Hauptmann, Herold, Herzog, König, Prinz (2x), Sultan und Zar (2x). Die ganz konventionellen Männernamen sind ebenso gut vertreten: Noldi (Arnold), Egon, Frank, Hans, Joggi (Jakob), Kilian, Leo (2x), Max oder Willi.

Für heutige Ohren eher ungewöhnlich: Apollo, Bur, Dingo, Ebro, Falk, Fink, Fino, Hektor, Jodler (2x), Landenberg, Lenz, Liliput, Luchs, Madi, Mozzo, Naranco, Nelson, Nolli, Nudri, Pius, Roggen, Vebo und Wallo. Ganz unerwartet auch Namen, die man eher bei Kühen erwarten würde: Fortuna oder gar Venus.

2024 sind laut der Tierverkehrsdatenbank des Bundes übrigens die nachstehenden zehn Namen für Stierkälber schweizweit am häufigsten (in dieser Reihenfolge): Max, Leo, Bruno, Anton, Sämi, Hans, Paul, Fritz, Sepp, Emil.

Jeder Rasse ihre eigenen Kategorien-Grenzen

Wer sich den Bildausschnitt oben etwas näher angesehen hat, wird ob der Kategorien schon etwas ins Grübeln kommen. Wo für Braunvieh-Zuchtstiere noch folgende nachvollziehbaren Grenzen galten:

geb. nach 28. Februar 1923  
geb. vor 1. März 1923 und nach 31. Juli 1922
geb. vor 1. August 1922 und nach 30. Sept. 1921
geb. vor 1. Oktober 1921

da war (laut NZZ) für Fleckvieh-Zuchtstiere etwas Unordnung zu verzeichnen:

geb. nach 31. Dezember 1922 [wäre nach 1. Juni 1923 korrekt?]
geb. vor 1. Juni 1923 und nach 31. Oktober 1923 [recte: 1922]
geb. vor 1. Nov. 1922 und nach 28. Febr. 1921
geb. vor 1. März 1921

Es handelt sich wohl um ein Versehen, ob des Autors oder der Schriftsetzer sei dahingestellt.

Quellen

[Veröffentlicht am 8. Oktober 2024 um 23:55 MESZ]

Sonntag, 29. September 2024

Als das Weiacher Postbüro zum Bataillons-KP wurde

 Am Freitag, 1. September 1939 äusserte Adolf Hitler vor dem Reichstag die welthistorischen Worte: «Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit fünf Uhr fünfundvierzig wird jetzt zurückgeschossen!» (O-Ton des US-Senders CBS)

Da schon seit Wochen und Monaten gezündelt worden war und es nur eines Funkens bedurfte, um die hochbrisante Konstellation zur Explosion zu bringen, war auch dem Schweizer Bundesrat und der Armeeführung der Ernst der Lage nur allzu bewusst. 

Am 28. August 1939 ordnete der Bundesrat daher die Mobilmachung des Grenzschutzes (80'000 Mann) für den nächsten Tag an. 

Und da Weiach bekanntermassen direkt an der Grenze zu Deutschland liegt, war der Dienstag, 29. August, somit der erste Aktivdiensttag, den die Weycher Bevölkerung hautnah mitbekommen hat.

Frontrapport bitte!

Der Adjutant im Stab Grenzfüsilierbataillon 269 liess noch am selben Tag obigen Befehl (der erste erhalten gebliebene in einer ganzen Serie von über 500 Dokumenten aus den ersten drei Monaten Aktivdienst) an sämtliche Einheiten des Bataillons abgehen:

«Das Rgt. [Grenzregiment 54] resp. die Br. [Grenzbrigade 6] verlangt sofortigen genauen Frontrapport, mit allen Détails gemäss Frontrapport-Formular. Hilfsdienst (Mineure) separat. Den gleichen Rapport jeden Abend auf 1900 an Bat. Kdo.»

In diesem Bericht zuhanden der vorgesetzten Stelle waren die genaue Mannschaftsstärke zum Stichzeitpunkt (i.d.R. 14:00 Uhr des laufenden Tages), die Anzahl kranker und verletzter Wehrmänner, sowie die Anzahl an Karabiner und Maschinengewehre mitzuteilen. Diese Rapporte dienten den vorgesetzten Stellen als Überblick und Planungsgrundlage.

Dank Verstoss gegen TOZZA wissen wir's

In die Schreibmaschine getippt wurden diese Zeilen, wie aus der Ortsangabe hervorgeht, in der «Post Weiach». In den Räumlichkeiten der Posthalterfamilie Meierhofer (Alte Post-Strasse 2) war also der erste Aktivdienst-Standort des Kommandopostens des Grenzfüsilierbataillons 269.

Es sollte der letzte Befehl gewesen sein, der den Abgangsort nennt. Denn ab sofort galt aus Sicherheitsgründen: Keine Ortsangaben über Truppenstandorte! 

Diese Vorschriften sind auch heutigen Soldaten der Schweizer Armee wohlbekannt. Das Merkwort lautet TOZZA: Truppen (Wer?), Orte (Wo?, Wohin?), Zeiten (Wann?), Zahlen (Wieviele?), Absichten. All diese Informationen unterliegen der Geheimhaltung.

Quelle

  • Tagebücher Stab Gz Füs Bat 269, 1939-1940, Bd. 1-5. Signatur: CH-BAR E5790#1000/948#1869*. Bild in Subdossier_0000004, Unterlagen_0000006, S. 1089

[Veröffentlicht am 7. Oktober 2024 um 00:20 MESZ]

Freitag, 27. September 2024

Ungefähr 40 Imbenstöcke. Bienenhaltung Mitte des 19. Jahrhunderts

Hans Conrad Hirzel, Weiacher Pfarrer von 1843 bis 1855, hat sich um seine Gemeinde nicht nur als Seelsorger, sondern insbesondere auch im Bereich der «Hebung der landwirthschaftlichen Verhältnisse» verdient gemacht. Er hat die sogenannte Ortsbeschreibung 1850/51 über Weiach verfasst, die mit folgenden Worten endet:

«Und schliesslich hat auch die hiesige Bienenzucht noch ein Anrecht auf diese Beschreibung; denn obschon nicht sehr bedeutend, kann doch der Erfolg als ein ziemlich günstiger bezeichnet werden, wozu Lage und Umgebung das meiste wohl beitragen mögen, da das nahe Wiesenthal auf der Einen und die waldigen Anhöhen auf der andern Seite nebst dem Eichen-Hochwald reichliche Ausbeute für die geschäftigen Sammler liefern. Man zählt gegenwärtig in der Gemeinde ca. 40 Imbenstöcke von verschiedener Güte und Schwere. –

Den Bienenfleiss indess pflegt man noch mehr an Menschen-Händen zu achten und will dabei gerne des Honigseims entbehren u. man thut auch daran nicht unrecht; denn noch keiner hat es hier bereut, dem Mutterwort gefolgt zu sein: „Seid fleissig wie die Bienen“!» (Wiachiana Fontes Bd. 3, S. 52)

Hier sieht man den Lokalbezug noch deutlich, indem Hirzel den Flurnamen Wiesental explizit erwähnt. Gemeint ist das Areal der ehemaligen Wässerwiesen westlich des heutigen Verlaufs des Dorfbachs. Interessanterweise erwähnt er keine ausgedehnten Obstbaumkulturen, wie sie noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein den Ortskern umgeben haben. Deren Ertrag steigt natürlich auch an, wenn man für eine genügende Anzahl an Bienen sorgt, die ihre Tracht in unmittelbarer Nähe finden.

Imben? Honigseim? Ein sprachlicher Exkurs

Laut dem Schweizerischen Wörterbuch Idiotikon (Id. Bd. 1, Sp. 233) stehen die Worte «Imb, Imbeⁿ,​ Imbi,​ Imd,​ Imi,​ Imm,​ Immeⁿ,​ Impeⁿ» für: «1. Bienenschwarm und -stock; 2. einzelne Biene; 3. «Imbeli», Bienenragwurz, ophrys apifera». 

Im Mittelhochdeutschen Handwörterbuch von Matthias Lexer (Bd. 1, Sp. 1421) findet man den Eintrag: «imbe-banc stm. bienenstand Gr.W. 5,105.»

Im Etymologischen Wörterbuch des Deutschen (das von der Akademie der Wissenschaften der DDR angestossen wurde) kann man folgende Zusammenhänge bis zurück an die indoeuropäischen Sprachwurzeln finden:

«sämig Adj. ‘dickflüssig’. Im 19. Jh. wird nd. sēmig ‘(von flüssigen Dingen) dick und aneinander hängend’ in die Literatursprache aufgenommen. Es handelt sich um die genaue lautliche Entsprechung von (heute unüblichem) nhd. seimig Adj. ‘dickflüssig’ (18. Jh., vgl. seimichte Brühe, um 1700), einer Ableitung von Seim m. ‘dickflüssiger Saft, Honig’, ahd. seim ‘Nektar, Honig (wie er aus der Wabe fließt)’ (9. Jh.; vgl. dazu die frühe, sich nicht fortsetzende Ableitung ahd. seimīg ‘wie Nektar, wie Honig’, 11. Jh.), mhd. seim, sein, asächs. mnd. sēm, mnl. seem, nl. zeem, anord. seimr, norw. (mundartlich) seima ‘Schleimschicht, zähe Flüssigkeit’ (germ. *seima-). Verwandt sind (mit m-Formans) kymr. hufen (aus *soimeno-) ‘Rahm’ und vielleicht auch griech. há͞ima (αἷμα) ‘(flüssiges) Blut’, (mit l-Formans) mir. silid ‘tropft, fließt, läßt fließen’, lit. séilė ‘Speichel, Geifer’, (älter, mit u̯-Formans) sývas ‘Saft’. Angesetzt werden kann eine Wurzel ie. *sē(i)-, *sei- ‘tröpfeln, rinnen, feucht’, zu der auch Seife, Sieb und seihen (s. d.) gehören. – Honigseim m. ‘ungeläuterter Honig’, mhd. honecseim, -sein.» (Pfeifer et al. 1993)

Rezeptionen der Weiacher Ortsbeschreibung

Johann Michael Kohler aus Thalheim (im heutigen Landkreis Sigmaringen, Baden-Württemberg) rezipiert diese Vorlage Hirzels mit nur wenigen Modifikationen:

«In Weyach stehen etwa 40 Bienenstöcke, und es finden diese fleißigen Thierchen im blumenreichen Wiesenthal und in den bewaldeten Anhöhen eine fette Weide. Der Erfolg der Bienenhalterei wird als ein ziemlich befriedigender bezeichnet.» (Kohler 1852, S. 147)

Fast acht Jahrzehnte später hat Gottlieb Binder, ein aus Windlach stammender Lehrer, diesen Abschnitt aus der Weiacher Ortsbeschreibung so formuliert: 

«Die Bienenzucht ist nicht von Belang. Sie wird nach uralter Methode betrieben, obgleich sie durch zweckmäßige Neuerungen schöne Erträgnisse abzuwerfen vermöchte. Weiach besitzt gegenwärtig 40 Bienenvölker in Körben, die im blumenreichen Wiesental, auf den sonnigen Bergwiesen und in den nahen Wäldern Blütenstaub und Honig in Menge finden.» (Binder 1930, BDW Nr. 89, 4. November)

Binder will also wissen, dass es sich um Körbe gehandelt hat! Walter Zollinger hingegen, der die Ortsbeschreibung transkribiert hat, zitiert sie wörtlich und schreibt in seinem blauen Büchlein mit dem Rückentitel Chronik Weiach:

«Es muss, wie aus einem Bericht der Gemeinnützigen Gesellschaft des Bezirkes Dielsdorf zu ersehen ist, der Bauernschaft in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nicht allzugut ergangen sein, sondern geradezu eine gewisse Notlage bei den Kleinbauern geherrscht haben. Deshalb wohl die geschilderten Bemühungen, um durch Nebenbeschäftigungen aller Art zusätzliche Verdienstmöglichkeiten zu schaffen. Die Haltung von Bienen war ebenfalls dazu angetan, und es gab im Dorfe zu jener Zeit ungefähr «40 Imbenstöcke».» (Zollinger 1972, S. 59-60)

Imbenstöcke, Bienenstöcke, Bienenkörbe

Wir sehen hier bei jedem dieser Autoren eine begriffliche Weiterentwicklung, bei der nicht ganz ausgeschlossen ist, dass Interpretationen eingeflossen sind, die die damalige Wirklichkeit verfälschen.

Ob die Imbenstöcke so ausgesehen haben wie auf dieser Druckgraphik aus der Zeit des 30-jährigen Kriegs, die im Hintergrund zufälligerweise eine Darstellung von Eglisau zeigt, können wir nicht sagen. 


Wenn es Körbe aus geflochtenem Stroh waren, dann ist allerdings die Platzierung in Schutzunterständen oder unter dem Dachvorsprung von Bauernhäusern anzunehmen. 

Über die bereits im 18. Jahrhundert bekannten Haltungsformen und Versuche berichten Johann Georg Krünitz (1774) und Jonas de Gélieu (1796), vgl. unten.

Quellen und Literatur

  • Aliter sentit, aliter loquitur. Eglißaw im Zürcher gebiet. [Frankfurt a. M.] : [Eberhard Kieser], [ca. 1626]. Zentralbibliothek Zürich. STF II, 38 [e-rara.ch 41434]
  • Krünitz, J. G.: Das Wesentlichste der Bienen-Geschichte und Bienen-Zucht für den Naturliebhaber, Landmann und Gelehrten. Berlin 1774. [e-rara.ch 23961]
  • Gélieu, J. de: Herrn J. von Gelieu Pfarrer der Gemeinden Colombier und Auvernier in der Grafschaft Neuenburg, der Oeconomischen Gesellschaft in Bern Mitglied &c. &c. Beschreibung der Cylinderförmigen Bienenkörbe von Stroh und der hölzernen mit doppeltem Boden. Aus dem Französischen übersetzt von Johannes Rißler. Basel 1796. [e-rara.ch 114088]
  • Kohler, J. M.: Landwirthschaftliche Beschreibung der Gemeinden Dettenriedt, Höngg, Thalweil-Oberrieden, Uitikon, Wangen, Weyach, bearbeitet nach den von genannten Orten eingegangenen Ortsbeschreibungen von J. M. Kohler, Seminarlehrer, und als Beitrag zur Kenntniß des Landbaues im Kanton Zürich, herausgegeben von dem Vorstande des landwirthsch. Vereines im Kanton Zürich. Druck von H. Mahler. Zürich 1852. [e-rara.ch 30931]
  • Lexer, M.: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1872–1878.
  • Binder, G.: Die landwirtschaftlichen Verhältnisse der Gemeinde Weiach um 1850. In: Bülach-Dielsdorfer Wochen-Zeitung, 1930, Nr. 86-89 (5 Teile).
  • Zollinger, W.: Aus der Vergangenheit des Dorfes Weiach. (Chronik Weiach. 1271-1971). 1. Aufl. 1972, 2., ergänzte Aufl. 1984.
  • Pfeifer, W. et al.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache.  
  • Ortsbeschreibung Weiach Anno 1850/51. Weiacher Turmkugeldokumente Teil C. Historisch-kritische Ausgabe von Ulrich Brandenberger. Wiachiana Fontes Bd. 3. Quellenedition, 2. Aufl., V2.01, Juli 2024. (Kapitel IX  Ref. C. Hirzel). [PDF, 8.90 MB]

Dienstag, 24. September 2024

Der finanziell transparente Weycher, Anno 1945

Wieviel verdient mein Nachbar? Wieviel der hier stationierte Kantonspolizist? Was kassiert der Herr Pfarrer? Und wer hat das höchste steuerbare Vermögen in der Gemeinde?

Auf all diese Fragen war die Antwort einst einfach erhältlich. Man konnte sie Mitte der 1940er-Jahre dem Anhang zu den gedruckten Jahresrechnungen der verschiedenen Gemeinwesen auf dem Gebiet der Gemeinde Weiach entnehmen. 

Da gab es nicht nur volle Transparenz über alle Ausgaben und Einnahmen auf kommunaler Ebene, nein, hier war der Bürger in finanzieller Hinsicht bezüglich der Steuerfaktoren völlig gläsern, denn diese Steuerdaten waren öffentlich.

Lokaler Krösus war man bereits mit fünfstelligem Jahreseinkommen

In der Nationalbibliothek ist aus unerfindlichen Gründen die gedruckte Jahresrechnung 1945 verfügbar. Diesem Büchlein kann man entnehmen, dass es gerade einmal drei Steuerpflichtige mit einem Jahreseinkommen über 10'000 Franken gab:  

  • Meierhofer Robert, Sager: 14400
  • Landw. Genossenschaft: 12400
  • Baumgartner Hans, Metzger: 11200

Und nur eine Weiacher Steuerpflichtige verfügte über ein Vermögen im sechsstelligen Bereich, alle anderen hatten weniger bis gar nichts: 

  • Willi Albertina, zahlte bei 152'000 Fr. Vermögen und 4900 Fr. Jahreseinkommen insgesamt 321 Franken Staatssteuern.

Vergleichsweise hohe Einkommen von Staatsbediensteten

  • Hauser Theodor, Pfarrer:   7100      
  • Bill Otto, Polizist:   7600      
  • Zollinger Walter, Lehrer:  7400      
  • Vollenweider Luise:  6700  [Lehrerin, vgl. WeiachBlog Nr. 370]

Indexiert nach dem Landesindex der Konsumentenpreise auf heutige Geldwerte ergibt das nicht gerade berauschende Zahlen. Die 7600 Franken des Kantonspolizisten Bill entsprechen heute rund 40'000 Franken. Also hatte auch Sägereiunternehmer Robert Meierhofer (heutiges Holz Benz/Ärztehaus-Areal) nur gerade 75'000 Franken Jahreseinkommen. Man kann sich denken, wie tief die Kaufkraft der weniger auf Rosen gebetteten Weiacherinnen und Weiacher war.

Druckerei nur einen Katzensprung entfernt

Für die Produktion der 68-seitigen Broschüre musste der Gemeindeschreiber übrigens nur wenige Meter zurücklegen: vom Alten Gemeindehaus an der Friedhofmauer auf die andere Seite des Kirchenbezirks: Die Druckerei Kleiner befand sich im Erdgeschoss der Liegenschaft Winkelstrasse 7 (heutiges Wohnhaus von Willi Baumgartner-Thut).

Quelle und Literatur

  • Gemeinde Weiach (Hrsg.): Oeffentliche Guts-Rechnungen mit Steuerregister vom Jahre 1945. Buchdruckerei W. Kleiner - Weiach. Signatur: SNB OP 2214 (Schweiz. Nationalbibliothek, Bern) –  Staatssteuer-Register 1945 der Gemeinde Weiach, S. 59-67.
  • Öffentlichkeit der Steuerregister. Steuerinformationen herausgegeben von der Schweiz. Steuerkonferenz SSK, Januar 2019.
  • Audit Zug AG: Wie öffentlich sind Steuerdaten?  audit-info 87, 01.01.2022.
  • Aschwanden, E.; Fumagalli, A.: Mehr Steuerehrlichkeit oder billiger Voyeurismus? Wie unsere Steuerdaten zur Geheimsache wurden. Neue Zürcher Zeitung, 24. Mai 2022.

Sonntag, 22. September 2024

Im grossen Njet-Ozean mitgeschwommen

Heute war wieder einmal einer dieser Abstimmungssonntage, an denen Weiach nicht wirklich aufgefallen ist. In der Kantonsrangliste der Wahlkreise steht die Gemeinde zumindest nicht auf dem obersten Treppchen. Bei der kantonalen Vorlage aber immerhin auf dem Podest. Dieser Umstand hat auch für die Kommunalpolitik Gewicht.

Gesamtzahl hat Plafonds erreicht

Von insgesamt 1247 Stimmberechtigten (auf fast exakt demselben Wert wie schon letztes Jahr bei der immer noch vor Bundesgericht hängigen Infrastruktur-Abstimmung) haben sich gerade einmal 468 (37.53 %) dazu aufgerafft, ihre Stimmunterlagen bei der Gemeinde einzureichen. Damit ist Weiach zwar nicht das kantonale Schlusslicht, liegt aber auch deutlich unter dem nationalen Durchschnitt von rund 45 % Beteiligung.

Der Stadt-Land-Graben bei der Biodiversitätsinitiative
(Quelle: Statistisches Amt des Kantons Zürich)

Parteiparolen sind Nebensache

Die sog. Biodiversitätsinitiative wurde bei uns mit 362 Nein zu 105 Ja (77.52 % Nein-Stimmen) bachab geschickt. Im Njet-Gürtel zwischen tiefstem und höchstem Punkt des Kantons (Schnebelhorn, Gemeinde Fischenthal) belegt Weiach allerdings nur Platz 9 in der Nein-Anteil-Rangliste. – Eine Ohrfeige für die Linken und Grünen.

Auch die Reform der beruflichen Vorsorge fand bei den sich beteiligenden Weycherinnen und Weychern keine Gnade: 340 Nein zu 118 Ja ergibt immer noch einen Nein-Anteil von fast drei Vierteln. Und in der Wahlkreis-Rangliste Platz 4 beim Neinstimmen-Anteil. Bemerkenswert, wie hier das von den Grünen und Sozialdemokraten favorisierte Nein gegen die vereinigte bürgerliche Phalanx der Ja-Parolen so deutlich obsiegt hat. Denn immerhin ist Weiach nach wie vor eine SVP-Hochburg. – Eine Ohrfeige für die Bürgerlichen.

Überdeutliche Asylkritik

Bei der kantonalen Vorlage, einer Änderung des Bildungsgesetzes, wo es um Stipendien für vorläufig aufgenommene Ausländerinnen und Ausländer ging, folgten die 463 Stimmberechtigten deutlich der SVP-Parole: 369 Nein zu 94 Ja. Diese 79.70 % Nein ergeben Platz 3 auf der Nein-Rangliste der Wahlkreise.

Heisst: rund 30 Prozent aller Stimmberechtigten (also inklusive die Stimmabstinenten!) sind zumindest asylkritisch, wenn nicht gar -feindlich eingestellt. Im Hinblick auf die immer noch obschwebende Frage, wo und wie die unserer Gemeinde zugeteilten Asylanten untergebracht werden sollen, ist das ein Widerstandspotential, das der Gemeinderat auf der Rechnung haben muss.

Freitag, 20. September 2024

Auswandern nach Chile? Gemeinde Weiach zahlt Kopfprämie!

Im Jahre 2010 hat der Autor dieses Blogs den ersten Hinweis auf eine solche Wanderungsbewegung gefunden. Demnach hat ein Jacob Rüdlinger seine alte Heimat Richtung Südamerika verlassen, wie ein Nachkomme mit einem Eintrag im Besucherbuch der damals noch rund um die Uhr offenen Reformierten Kirche Weiach mitteilte.

In einer kürzlich digitalisierten Ausgabe der Zürcher Oberländer Zeitung «Der Freisinnige» findet man eine indirekte Bestätigung dieses Vorgangs. Und eine Angabe, wann diese Emigrationsbewegung sich abgespielt hat, nämlich in den 1880er-Jahren:

«Aus Weiach gedenken nach dem "Wehnthaler" mehrere Familien nach Chile auszuwandern, und hat die Gemeinde letzten Sonntag beschlossen, jedem der Auswanderer, groß und klein, eine Unterstützung von 50 Fr. mit auf den Weg zu geben

Der Beschluss wurde – wohl anlässlich einer Gemeindeversammlung – am 28. Oktober 1883 gefasst.

Die chilenische Regierung hat sich nach dem Sieg über die Spanier im Jahre 1866 sukzessive an die Binnenkolonisation der Gebiete südlich der Hauptstadt Santiago gemacht. 

Für das in einem blutigen Krieg unter Kontrolle gebrachte Gebiet der Mapuche-Indianer um Temuco herum suchte sie in Europa aktiv nach landwirtschaftlich ausgebildeten Fachkräften. 

So wurden neben vielen Deutschen auch Schweizer Bauern samt Familie angeworben, um das von der Armee erkämpfte Gebiet besser zu sichern und zugleich einen substantiellen Beitrag an die Volkswirtschaft des jungen südamerikanischen Staates zu leisten.

Und die Gemeinde Weiach war natürlich froh, potentiell oder tatsächlich armengenössige Personen in ferne Lande exportieren zu können. Eine Kopfprämie zur Ermunterung erschien wohl als gute Investition. Noch zu eruieren ist, ob die Auswanderer dafür auf alle Zeiten auf das Weiacher Gemeindebürgerrecht (und damit ihren Anteil am Holznutzen) verzichten mussten.

Quelle

Donnerstag, 19. September 2024

Das Lied der Schüler zur Schulhauseinweihung

In der Aufzeichnung der Weiherede des Weiacher Pfarrers Johann Heinrich Burkhard (1772-1837) steht am Schluss ein eigens gedichtetes (und möglicherweise auch komponiertes) Lied. 

Laut Burkhard haben es die Weiacher Schulkinder zum Anlass der Einweihung des auf der Hofwiese errichteten Gebäudes (des heutigen Alten Schulhauses am Schulweg 2) einstudiert. Und zum Abschluss der Feier aufgeführt.

Die Melodie ist leider nicht erhalten. Aber der Text. Hier der volle Wortlaut:

Lied, von den Kindern zu singen.

In eigener Melodie.

Auf Kinder! wir wollen uns freuen,
heut allzumahl.

Es tönet die Schule zu weihen
der Lieder Schall.

Uns ist nun der Tempel erbauet,
den Liebe giebt,

Und segnend vom Himmel her schauet,
der Kinder liebt.

Wir segnen voll Dankes die Theuern,
die uns geliebt,
[gemeint: Eltern und Mitglieder der Baukomission]

wir wollen die Schule hoch feyern,
die man uns giebt.

Der hoch von dem Sternen-Gewimmel
auf Unschuld blikt,

Er segne euch, Väter vom Himmel
mit reinem Glük!

Er rufte, was Väter begonnen,
zur schönen That.

Wie viel ward uns Kindern gewonnen,
zur Tugendsaat!

Jezt streben wir frölichen Muthes
zur Weisheit an.

Erringen uns Wahres und Gutes
auf schöner Bahn.

Ja – fröhlichen Muthes
wir streben zur Weisheit an!

Ja – Wahres und Gutes
wir suchen auf schöner Bahn!

Und heben zum Weltenregierer
gerührt den Blik:

Sey ferner, o Vater, uns Führer
zum wahren Glük!

Von der damaligen Volksfrömmigkeit, die die Väter dieser Kinder bereits im Stadlerhandel 1834 hier im Unterland und während des Züriputsches 1839 in der ihrer Ansicht nach vom rechten Weg abgekommenen Stadt Zürich sogar mit bewaffneter Hand verteidigt haben, hat sich die Schule in den letzten bald 188 Jahren radikal verabschiedet.

Quelle und Literatur

  • Auszug aus: Weiherede Altes Schulhaus Weiach, gehalten am 24. November 1836 durch Pfr. Johann Heinrich Burkhard. Nach der Transkription von W. Zollinger, 1969. Vorabdruck aus Wiachiana Fontes Bd. 2.
  • Brandenberger, U.: Aufstand wegen neumodischen weltlichen Schulbüchern. Die Weiacher im «Stadlerhandel» vor 175 Jahren. Weiacher Geschichte(n) Nr. 114. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, Mai 2009.
  • Brandenberger, U.: «Wandelt allezeit selbst in frommer Reinheit der Sitten!». WeiachBlog Nr. 2129, 8. Juli 2024.

Dienstag, 17. September 2024

Ab in fremde Kriegsdienste – der Zwangsehe entflohen

Conrad Bersinger, Schmieds, Küfer von Weiach, geboren 1829. So wurde ein junger Mann im Dezember 1855 durch einen Beamten der Militärdirektion des Kantons Zürich identifiziert. Sein Fehler: Er hatte sich – ohne auf dem ordentlichen Weg Auslandurlaub eingegeben zu haben – für den Dienst bei einem Schweizerregiment im Königreich beider Sizilien anwerben lassen und war bereits auf dem Weg nach Neapel (für die Details: Weiacher Geschichte(n) Nr. 29). 

Sich als Schweizer Bürger für fremde Kriegsdienste anwerben zu lassen, das war damals noch nicht strafbar (erst seit 1927, vgl. Art. 94 MStG). Zu diesem Zeitpunkt war lediglich die Anwerbung auf Schweizer Gebiet verboten, weshalb es gleich ennet der Grenze in Hohentengen ein sogenanntes Werbdepot gab.

Bersinger flüchtete aus einer komplett gescheiterten Beziehung. Eine Fluchtursache, die man auch bei anderen Unterländer Männern in früheren Jahrhunderten feststellen kann.

Ein Eglisauer wird zum Heiraten gezwungen

Zeitgenössische Aufzeichnungen aus dem 17. Jahrhundert sind uns von Rudolf Wirz (1624-1682) überliefert, der von 1671 bis zu seinem Tod Pfarrer in Eglisau war. Er führte das sogenannte Stillstandsprotokoll, also die Amtsbücher der Sittenaufsicht und Kirchenpflege im reformierten Rheinstädtchen am Tor zum Rafzerfeld, das seit 1651 vollständig zu Zürich gehört:

«[Donnerstags] den 5. tag junii 1673 erschine vor einem ehrsammen stillstand aufm rahthauß Regula Gering von Rüdlingen, damahls bei eegaumer Hartmann dienend, fürgeben: Hanß Ulrich Hartmann, eegaumers sohn, habe ihro nit allein die ee versprochen, sonder sei auch geschwängeret, weliches gedachter Hartmann wider alles zusprëchen hartnäkig, auch zu Zürich vor eegricht verlaugnet, biß man im mit dem Wellenberg gethröüwt, da er bekendt, daß er sei geschwängeret habe. Darauff er sei eelichen müßen. Die copulation ist gschehen zu Weyach. NB. Wie es wyter gangen, vide in ao 1675 den 9. febr[uarii].»

Da war also eine Frau aus dem Schaffhausischen, die sich mit einem Sohn ihres Dienstherrn (und Funktionär der lokalen Sittenaufsicht!!) eingelassen hatte. Die daraus entstehende Schwangerschaft liess sich nach einigen Monaten nicht mehr leugnen. 

Geständnis unter Androhung der Folter

Regula Gehring gab, wie es die Vorschriften verlangten, gegenüber dem Pfarrer den Kindsvater bekannt, eine Eigenschaft, die Hans Ulrich Hartmann jedoch abstritt. Er knickte erst vor dem höchsten Zürcher Familiengericht ein, als man ihm schliesslich die Inhaftierung im Gefängnisturm mitten in der Limmat androhte (samt der dann dort folgenden Befragung unter Folter). Und er legte ein Geständnis ab: Ja, ich habe sie geschwängert.

Ob er nun der Vater war oder nicht: Rechtlich gesehen musste er die Gehring nun ehelichen, da führte kein Weg daran vorbei, denn das Kind musste einen Vater haben, der für seinen Unterhalt zahlt. Im Übrigen war diese Zwangsheirat auch erforderlich, um den Ruf seines Vaters nicht noch weiter zu beschädigen.

Kein Aufsehen erregen, deshalb Heirat in Weiach!

Unter dem Datum 9. September 1673 ist im Weiacher Kirchenbuch eingetragen, es sei (transkribiert in heutige Schreibweise) Hartmann, Hans Ulrich, Eglisau, getraut worden mit Gehring, Regula, Buchberg SH. Und zwar «absque sertis», wie der Weiacher Pfarrer Hans Rudolf Seeholzer ausdrücklich vermerkte, also «ohne Brautkranz». Dass Gehring diesen nicht tragen durfte, war eine Ehrenstrafe wegen des vorehelichen Beischlafs. 

Und der Transkribent, ein im Privatauftrag tätiger Genealoge, notierte auf der Karteikarte, die er zu dieser Hochzeit anlegte: «Sie sind auf Befehl der Herren Eherichter in Weiach, doch der Gemeinde ohne Schaden, eingesegnet worden.» (Quelle: StAZH E III 136.1, EDB 318)  Dieser Zusatz war wichtig, er bedeutete nämlich, dass der Gemeinde Weiach dadurch in keiner Art und Weise Kosten aufgebürdet werden konnten.

Im Eglisauer Kirchenbuch gibt es natürlich auch einen entsprechenden Eintrag von Pfarrer Wirz – unter demselben Datum wie oben: Hartmann, Hans Ulrich, Burg, getraut mit Gehring, Regula, Buchberg SH. Dazu die Notiz: «Diße Hochzeyt ist mit consens Unser Gn. Hrn. zsammen geben worden zu Weyach, weyl er sei haben müsßen, weyl er sei geschwächt und sich allhie zu copulieren asßen gschämbt.» (Quelle: StAZH E III 32.3, EDB 30)

Deutlicher kann man es kaum formulieren. Und es war das Ehegericht in Zürich selber, das die auswärtige Heirat angeordnet hatte.

N.B.: In den Kirchenbüchern wird die aus Rüdlingen stammende Gehring Buchberg zugeordnet, weil die beiden Gemeinwesen seit Jahrhunderten eine gemeinsame Kirchgemeinde bilden. Die Kirche Buchberg befindet sich zwar auf exponierter Höhe über dem Rhein, das Gotteshaus steht jedoch auf Rüdlinger Boden. 

Gebrochenes Versprechen, mit der Ehefrau einen Hausstand zu gründen

Nicht einmal anderthalb Jahre nach dieser Zwangshochzeit musste sich der Eglisauer Stillstand erneut mit dem Fall Hartmann-Gehring befassen – ordentlicher Sitzungstag war offenbar der Donnerstag (s. oben):

«[Donnerstags] den 9. febr[uarii] 1675 ist stillstand aufm rahthauß ghalten worden und erkendt, das obgenanter under dato 5. junii 1673 Hanß Ulrich Hartman eegaumers sohn bei der Burg sein haußfr[auw] Regula Gering soll ins vatters hauß nemmen oder mit ihro außhin zeühen und selbsten hauß halten oder für ein ehrsamm eegricht gwisen werden, weliches ehe er wollen thun, hatt er versprochen, wölle auf s. Margrethen tag mit ihro auß des vatters hauß und eigen hauß halten. Alß aber die hrn. von Straaßburg an unser gnedig hrn. und Bern volk begert und erlangt zur bsatzung in ihr statt, hatt diser Ulrich, der bishar nit können vom vatter kommen, jetz könen dingen und gen Straßburg zeühen, damit er nit mit der Geringin haußen müße etc.»

Dem Ehemann wider Willen war also befohlen worden, seine Angetraute ins elterliche Haus zu nehmen oder einen eigenen Hausstand zu gründen. Widrigenfalls wurde ihm eine erneute Vorladung vor das Ehegericht angedroht. Worauf Hartmann junior versprach, auf den Gedenktag der Heiligen Margareta mit Gehring aus dem väterlichen Haus auszuziehen und einen eigenen Hausstand zu gründen.

Interessant ist, dass der Gedenktag für eine Heilige auch fast anderthalb Jahrhunderte nach der Reformation noch ganz selbstverständlich im alltäglichen Sprachgebrauch erscheint. Es dürfte sich daher um die Märtyrerin Margareta von Antiochia (gest. 305) handeln, deren Gedenktag Mitte Juli den Beginn der Ernte markierte, im bäuerlichen Jahreslauf einer auf Flurzwang und Dreifelderwirtschaft eingerichteten Landwirtschaft ein Datum von entscheidender Bedeutung.

Neues Glück in der Fremde?

Diese Zukunftsaussichten scheinen Hans Ulrich Hartmann aber derart widerstrebt zu haben, dass er die günstige Gelegenheit ergriff und sich als Söldner in Diensten der Stadt Strassburg anwerben liess. Die Stadtherren hatten nämlich von den befreundeten Stadtstaaten Zürich und Bern Truppen angefordert, um sich gegen einen möglichen Angriff zu wappnen. Diese wurden auch bewilligt und so gelang es Hartmann durch den Soldvertrag der Zwangsehe zu entfliehen. Wie es ihm dort ergangen ist und was sein Vater (und seine Ehefrau!) dazu gesagt haben, das wird hier nicht weiter nachverfolgt.

Das Verhältnis von Strassburg zu den Eidgenossen

Die Reichsstadt Strassburg hatte sich mit den eidgenössischen Orten in mehreren Bündnissen abgesichert und bekam, wenn nötig, Schweizer Militärhilfe in Form von Truppenkontingenten. Nach der Reformation, die in Strassburg Erfolg hatte, kühlten sich die Beziehungen zu den katholischen Orten der Eidgenossenschaft ab. Die Stadt blieb jedoch ein enger Verbündeter der reformierten Orte, die immer wieder Söldner in den Dienst der Stadt stellten. Das lag in ihrem ureigenen Interesse, denn die wirtschaftlichen Beziehungen der Strassburger Kaufleute ins Gebiet der Eidgenossenschaft waren rege und lukrativ. N.B.: Die Urkunde des Bündnisses von 1588 zwischen Bern, Zürich und Strassburg kann man sich heute auf der Website des Zürcher Staatsarchivs ansehen (vgl. StAZH C I, Nr. 389).

Nach der 1681 erfolgten Eroberung der Stadt durch den französischen Sonnenkönig Ludwig XIV. wurde Strassburg zwar rekatholisiert und alle Reformierten verloren ihre öffentlichen Ämter. Trotzdem blieb das Elsass wirtschaftlich ein zum Heiligen Römischen Deutscher Nation gehörendes Gebiet, was sich bis 1789 an einer Zollgrenze manifestierte, die über die Vogesen verlief. Deshalb bewahrte das Gebiet auch seine deutsche Sprache und Kultur.

Quellen

Sonntag, 15. September 2024

Der Anschlagkasten vor dem VOLG, est. 1959

Wissen Sie, wann und von wem die Vitrinen linkerhand des Eingangs zum VOLG-Laden an der Stadlerstrasse 4 finanziert wurden? Anhand des Artikeltitels kann man in etwa erahnen, wer das gewesen sein könnte.

Wann, das sagt der Titel ohne Umschweife. Walter Zollinger hat in seiner Jahreschronik 1959 die folgende Fotografie eingeklebt:


Wenn man sechseinhalb Jahrzehnte später vor dem VOLG steht, dann erkennt man diese Vitrinen fast unverändert wieder. Lediglich etwas verkleinert kommen sie in der Nähe des Ablaufrohrs daher. Und rechts desselben gibt es heute eine weitere kleine Vitrine.

Gesamtrenovation des Milchlokals

Wie man der Bildlegende entnehmen kann, war der Anschlagkasten Teil eines Umbaus der Milchhütte. Die Motivation erläutert Zollinger auf derselben Seite des Typoskripts im Lauftext:

«Die Milchgenossenschaft Weiach war gezwungen, ihr Milchlokal zu vergrössern, da sich, vor allem abends zur Hüttenzeit zwischen 18.30 und 19.30 Uhr[,] die Milchlieferanten und die Milchkonsumenten nicht in die Haare, wohl aber in den Weg gerieten. Ende April bis Mitte Juli musste daher das Gemeindeschlachthaus als Provisorium herhalten. Ab 16.7. aber präsentierte sich dann das umgebaute u. vergrösserte, zugleich mit modernen Einrichtungen versehene "neue" Milchlokal wieder aufs Beste. Zudem wurde ein anderer "Fahrplan" eingeführt:

Milchkunden von 18.30 bis 19.00 Uhr

Milchlieferanten von 19.00 bis 19.30 Uhr, 

sodass nun für alle genug Platz vorhanden ist.» (G-Ch Weiach 1959, S. 12) 

Beleuchtete Informationsplattform für Behörden und Vereine

Die Milchgenossenschaft hat 2009 ihren Zweck geändert und nennt sich heute Bauerngenossenschaft Weiach. Und das Gemeindeschlachthaus musste 1974 dem Ausbau der Sternenkreuzung weichen. 

Die Gemeinde, genauer: das «politische Gemeindegut», war es auch, das den Kasten finanziert hat:

«Am Milcheinnahmegebäude wurden neue, nachts beleuchtete Anschlagkasten für Behörden und Vereine errichtet; Kosten Fr. 3030.»  (G-Ch Weiach 1959, S. 8) 

Umgerechnet nach dem Landesindex der Konsumentenpreise wären das heute ca. 13'500 Franken (vgl. LIK-Rechner).

Der Anschlagkasten diente zusammen mit dem Weibel-Amt der Information der Öffentlichkeit. War also ein Vorläufer der «Mitteilungen für die Gemeinde Weiach» bzw. der heutigen Website www.weiach.ch.

Quelle

  • Zollinger, W.: Jahreschroniken Weiach 1952-1967. Originale: Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich. Hier: Chronik des Jahres 1959. Signatur: G-Ch Weiach 1959 – S. 8 & 12.

Samstag, 14. September 2024

Ein schmaler Trottoirstreifen wird geteert

Zollingers Jahreschronik 1959, Typoskript abgeschlossen am 31. Juli 1961, an die Zentralbibliothek Zürich abgeschickt mit Brief vom 24. August 1962, lässt auch Rückschlüsse auf den Ausbauzustand der Strassen auf dem Gemeindegebiet zu. Wir erfahren so, dass ein unscheinbares Stück Asphalt ins AHV-Alter gekommen ist:

«In der Zeit von Mitte Juli bis Mitte August erhält das bisher nur kiesige und deshalb ungern benutzte Trottoir rechtseitig [sic!] der Strasse von der Brunngasse bis Raat hinauf einen guten Teerbelag. Nun wird es deutlich eher begangen, sogar hie und da noch als "Radfahrerweg" gebraucht.» (G-Ch Weiach 1959, S. 14)

Die Brunngass mündet etwa dort in die Stadlerstrasse, wo vis-à-vis der Müliweg mit Steinblöcken abgetrennt und nur für Fussgänger und Zweiradfahrer passierbar ist.

Wer die Stadlerstrasse (RVS 566) befährt, der kennt dieses schmale Band westlich der 1845/46 gebauten Kunststrasse Richtung Raat.

Viel Platz hat es nicht zwischen der Fahrbahn und der Pflanzlinie der Birkenallee. So ist es denn vor allem auch diese Baumreihe, die die Trottoirbreite definiert. Nicht ganz 100 Birken, die Automobilisten ab und zu zum Verhängnis werden:

Foto: Kantonspolizei Zürich, 31. März 2010

Quellen und Literatur
  • Zollinger, W.: Jahreschroniken Weiach 1952-1967. Originale: Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich. Hier: Chronik des Jahres 1959. Signatur: G-Ch Weiach 1959 – S. 14.
  • Steiner, B.; Eggmann, V.: Weiacher Tagebuch mit 99 Birken. (Reihe: Zürcher Baumgeschichten XXI.) In: Tages-Anzeiger, 23. April 1988 – S. 21.
  • Brandenberger, U.: VW Golf crasht in Birke bei Dorfeingang. WeiachBlog Nr. 810, 31. März 2010.

Donnerstag, 12. September 2024

SVP-Vizepräsident, parteilos. Ein identitätspolitischer Spagat.

Weiach hat sich jahrzehntelang dagegen gesträubt, in parteiorganisatorischer Hinsicht auf kommunaler Ebene sozusagen kolonisiert zu werden. Dass dies seit einigen Jahren mit der SVP Stadlerberg nun doch der Fall ist, steht für eine Zeitenwende.

Parteibücher haben in der hiesigen Gemeindepolitik nichts verloren

Einen solchen Vorgang hat es seit den Zwischenkriegszeiten unseligen Angedenkens nicht mehr gegeben. In den 1920er- und 30er-Jahren dürfte es nämlich auch bei uns so etwas wie politische Ortsgruppen landesweiter Parteien und Bewegungen gegeben haben, wie Walter Zollinger 1972 in seinem blauen Büchlein rekapituliert:

«Der Generalstreik vom November 1918 zeigte mit erschreckender Deutlichkeit die entstandene Kluft zwischen der vom aufkommenden Marxismus beeinflussten Arbeiterschaft und dem wohlhabenden, alteingesessenen Bürgertum. Auch in unserem Bauerndorf bildeten sich gegen Ende der zwanziger Jahre, allerdings nur vorübergehend, solche Splittergruppen (Sozialisten, Jungbauern, Fröntler). Die zu jener Zeit und am Anfang der dreissiger Jahre um sich greifende starke Arbeitslosigkeit (Stempeln gehen) bildete für diese Bewegungen natürlich einen günstigen Nährboden. Zum guten Glück aber glätteten sich, bei uns wenigstens, die zeitweise hoch gehenden Wogen allmählich wieder. Heute gibt es in der Gemeinde selber keine festorganisierten politischen Parteien mehr.» (Zollinger 1972, S. 70)

Daran haben sich Generationen von Politikern gehalten. Auch Albert Meierhofer-Nauer, Posthalter und Gemeindepräsident von 1941 bis 1966, der 1935 auf der Bäuerlichen Liste in den Kantonsrat gewählt wurde und ab 1937 faktisch der Fraktion der damals neugegründeten BGB (Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei; heutige SVP) angehörte. Ob er Parteimitglied war, spielte für die kommunale Funktion keine Rolle.

Dreimal als Parteiloser gewählt...

In Zeiten des alles durchdringenden Internet und Social Media könnte man ein ähnliches Vorgehen nun allerdings wesentlich kritischer beurteilen. 

Der seit 2014 amtierende Weiacher Gemeindepräsident Stefan Arnold ist jedes Mal als Parteiloser angetreten und gewählt worden (vgl. zuletzt WeiachBlog Nr. 1801). So präsentiert er sich auch seit acht Jahren auf seinem Twitter-Auftritt (heute X genannt, vgl. Screenshot unten).

Wer sich über die SVP Stadlerberg informieren will, stösst allerdings auf der Kontakt-Seite auf einen parteipolitisch eindeutig einsortierten Stefan Arnold. Er figuriert dort als «Vizepräsident und Ansprechperson für Interessenten» (vgl. nachstehendes Bild):

... jetzt aber parteilich eingefärbt

Ein parteipolitisch engagierter Stefan Arnold ist grundsätzlich auch nicht zu beanstanden. Allerdings sollte sich der Gemeindepolitiker Arnold dann doch überlegen, ob die Anpassung des Twitter-Profils im heutigen Umfeld nicht angemessen wäre. 

Die bisherige Parteilosigkeit wurde beim Lexikon-Eintrag Weiach in der deutschsprachigen Wikipedia bislang noch beibehalten. Zumindest dort muss der Transparenz halber die Zugehörigkeit zur SVP dokumentiert werden, denn nach Lexikon-Definition ist ein Parteiloser, «wer ein politisches Amt oder Mandat ausübt bzw. anstrebt, jedoch keiner politischen Partei angehört».


Dass Arnolds X-Account auch nach der Machtübernahme durch Elon Musk nicht etwa seit Jahren verwaist ist, beweisen übrigens gelegentliche kurz und knapp formulierte Einwürfe an die Adresse politischer Kontrahenten, wie jüngst, am 5. September 2024, als Arnold auf einen Tweet von SP-Nationalrat Fabian Molina reagiert hat.

Nachtrag vom 13. September, 21:43

Im Register der Interessenbindungen, Stand: 1. Juli 2024, legt Gemeindepräsident Arnold offen, dass er als Vorstandsmitglied der SVP Stadlerberg fungiert:


Montag, 9. September 2024

«Amerikanische Luftgangster», revisited. Zum 80. Jahrestag.

««Ich erinnere mich, als ob dies alles erst vor kurzem geschehen wäre.» Mit diesen Worten beginnt die Weiacher Zeitzeugin von den Ereignissen des 9. September 1944 zu erzählen. Es war der Tag, als die US-Luftwaffe in Weiach und Rafz Güterzüge beschoss und mehrere SBB-Angestellte zum Teil schwer verletzte.»

So beginnt der Artikel von Ben Kron, Redaktor beim Tages-Anzeiger Unterland der am 21. August 2008 erschienen ist. Die Zeitzeugin war Mina Moser (1911-2017; vgl. WeiachBlog Nr. 1349). Kron weiter:

«Am 9. September 1944 war sie zu Hause, als sie durchs Fenster tief fliegende Flugzeuge sah, die aus ihren Bordwaffen schossen. «Zuerst dachte ich, dass sie gegeneinander kämpfen.» Wenig später sei aber ihr Bruder heimgekehrt und habe erzählt, dass die Flieger beim Bahnhof Weiach einen Güterzug beschossen hätten. [...] «Auch an den Schienen sah man Einschusslöcher von den Kugeln», so die Weiacherin.»

Das ist Oral History par excellence. Zeitgeschichte direkt aus dem Munde derjenigen, die persönlich dabei gewesen sind. Oder in unmittelbarer Nähe, wie Mina.

Die Weltgeschichte schlägt zu

Auch Geschichten über Geschichte haben nach einiger Zeit ihre Geschichte. Vor bald 25 Jahren hat der Tages-Anzeiger in der Reihe «Rund um den Kanton» einen Artikel von Christoph Schilling mit dem Titel: «Ein Ausflug in die Atom-Zone 2. Kaiserstuhl ist Grenzgebiet» publiziert:

«Später wurde es um die Gegend ein bisschen ruhig. Doch im Zweiten Weltkrieg streifte Weltgeschichte die Region. Zum Beispiel in Form von vier amerikanischen Jagdbombern, die im September 1944 im Weiacher Feld einen SBB-Güterzug beschossen. Die Flugzeuge kamen vom Rafzerfeld her und setzten viermal zum Angriff an. Die Dampflok mit den 13 Wagen erhielt 71 Treffer, Zugführer und Heizer wurden schwer verwundet.»  (Tages-Anzeiger, 3. August 2000)

Blocherrede warf ihre Schatten voraus

Sein Berufskollege Wüthrich hat den Beitrag in der Schweizerischen Mediendatenbank SMD gefunden und für einen Blick-Artikel über eine bevorstehende Rede von Bundesrat Christoph Blocher in Rafz verwurstet:

«Das Rafzerfeld war im September 1944 auch Ausgangspunkt eines Angriffs von vier amerikanischen Jagdbombern auf einen SBB-Güterzug bei Weiach. Die Flugzeuge kamen vom Rafzerfeld her und setzten viermal zum Angriff an. Die Dampflok und die 14 Güterwagen erhielten mehr als 70 Treffer. Der Lokführer und der Heizer wurden schwer verwundet.» (Blick, 6. Mai 2005)

So schnell wird im «Blocher-Fieber» aus einem «Zugführer» also ein «Lokführer» (was beleibe nicht dasselbe ist!) und geschehen überdies noch wundersame Wagen-Vermehrungen. Wenn man sich als Blick-Journi schon so offensichtlich bei seinem Tagi-Kollegen bedient, dann sollte man wenigstens korrekt kopieren.

Andere Literatur ignoriert

Nun ist es keineswegs so, dass es keine anderen Artikel zum Thema gegeben hätte. 

(1) Wüthrichs Berufskollege Riedel war im Jahr zuvor im Zürcher Staatsarchiv und hat in einem Rapport der Kantonspolizei Zürich auch entsprechende Fotos gefunden. Er spricht – wie Schilling – von 13 Wagen. Und mindestens einer davon war ein Personenwagen, kein Güterwagen. Vgl. Riedel, S.: «Ungebildete Luftgangster». Rafz / Weiach. Versehentlich SBB-Züge beschossen. (Blickpunkt Region). In: Zürcher Unterländer, 9. September 2004 – S. 5. Bei diesem Dossier dürfte es sich um einen Teilbereich von StAZH N 1102.4 handeln, der noch bis 31. Dezember 2024 der Schutzfrist untersteht.

(2) Auch die Nr. 41 der Reihe Weiacher Geschichte(n) war bereits online verfügbar, damals noch auf der Geocities-Plattform. Dort wird aus der zeitgenössischen Tagespresse zitiert, die aufgrund von Augenzeugenberichten kolportieren, die US-Jagdflugzeuge hätten dreimal zum Angriff angesetzt. (vgl. den Artikel: Weiacher Geschichte(n) Nr. 41.)

Entgegen der Behauptung von Wüthrich wurde – laut den unmittelbar nach dem Ereignis publizierten Augenzeugenberichten – der Lokführer nur leicht verwundet, der Zugführer und der Heizer hingegen schwer. Vgl. Weiacher Geschichte(n) 41, S. 86: Schwerverletzte: Zugführer Wuhrmann u. Heizer Hösli; Leichtverletzte Lokführer u. Kondukteur (bzw. Kondukteursaspirant je nach Quelle). 

Auf welche Quellen stützte sich Schilling?

Das hat Schilling in seinem Atomzone-Artikel richtig beschrieben. Stellt sich die Frage: Woher wusste er das? Haben die Kaiserstuhler in ihren Archiven entsprechende Unterlagen? Der zum Zeitpunkt der Blocherrede für den Schweizerischen Beobachter tätige Schilling bestätigte den Abkupferungsvorgang indirekt mit den Worten: «Seit im Schweizer Journalismus praktisch allen Redaktionen die SMD [...] zur Verfügung steht, wird einander abgeschrieben, dass es nur so klöpft.»

Er könne sich leider nicht mehr daran erinnern, wo er die Informationen herhabe, verwies jedoch auf die Standardwerke zur Geschichte des Kantons Zürich (GKZ; 3 Bde.) sowie die Geschichte des Kantons Aargau von Gautschi (vgl. Links unten, sowie Quellen und Literatur).

Gang in die Zentralbibliothek

Der Autor der Weiacher Geschichte(n) – damals gab es den WeiachBlog noch gar nicht – begab sich daraufhin am 8. Juni desselben Jahres in die Zentralbibliothek Zürich. Und konnte Schilling Bericht erstatten:

«Sie erinnern sich offensichtlich noch sehr genau. Von der GKZ Bd. 3 erwartete ich solche Angaben weniger, zumal ich die Standardwerke zur Geschichte des Kantons Zürich schon ziemlich genau durchforstet habe (jedenfalls soweit ein Index [erg.: mit dem Stichwort Weiach] vorhanden war).

Meine heutigen Nachforschungen in der Zentralbibliothek haben das auch bestätigt. Die Passagen über Kriegszerstörungen betreffen vor allem die Bombenangriffe auf Zürich
[...].

Dass Gautschi auch einen Band der Geschichte des Kantons Aargau verfasst hat, wusste ich bisher nicht. Ich habe ein interessantes und flüssig geschriebenes Werk kennengelernt (unterschätze nie die Standardwerke über Nachbargebiete) und Sie haben mit ihrer Vermutung  passend zum Thema  einen Volltreffer gelandet.»

Wie ein Angriff im Kanton Zürich zum Aargauer Thema wurde

Die Quelle für den Tagi-Artikel aus dem Jahre 2000 dürfte Gautschis Band III 1885-1953 sein, Kapitel 30, Grenzverletzungen und Kriegsschäden, Seite 482:

«Die schwersten Neutralitätsverletzungen auf Aargauergebiet ereigneten sich in den letzten Kriegsmonaten, als die Luftüberlegenheit der Allierten derart drückend war, dass sie es sich leisten konnten, am hellen Tage mit Bombern und Jagdflugzeugen lohnende Ziele im deutschen Grenzgebiet anzugreifen, wobei mehrmals die Schweizer Grenze unbeachtet blieb.

So wurde am Samstag, 9. September 1944, um die Mittagszeit, auf der Strecke KaiserstuhlZweidlen ZH ein SBB-Güterzug durch vier amerikanische Jagdflugzeuge mit Bordwaffen schwer beschossen. Die Flugzeuge kamen aus der Gegend des Rafzerfeldes und setzten viermal zum Angriff an. Die Zugskomposition, die aus einer Dampflokomotive und 13 Wagen bestand, erhielt 71 Treffer, wovon 28 in die Lokomotive. Vom Personal wurden der Zugführer und der Heizer schwer verwundet; zwei weitere Personen erlitten leichtere Verletzungen.»

Es gab einst eine Polizeistation Kaiserstuhl

Wäre diese Beschreibung nicht noch von vielen weiteren Vorfällen umgeben, die wirklich auf Aargauer Territorium erfolgten, müsste man Gautschi mangelnde Geographiekenntnisse ankreiden. Zum Zeitpunkt des Angriffs fuhr der Zug nämlich klar auf Zürcher Gebiet. Dass es dennoch einen Aargauer Bezug gibt, hat mit dem Verfasser des der Schilderung zugrundeliegenden Rapports zu tun. 

Die zu obigem Lauftext gehörende Anmerkung 14 auf S. 624 gibt nämlich folgende Quellenangabe: «Polizeistation Kaiserstuhl (Bugmann) an Polizeikommando; Kaiserstuhl, 10. September 1944. PKAr.» [= Polizeikommando-Archiv, Aarau]

Der Zürcher Kantonspolizist Bill hatte also 1944 einen Aargauer Kollegen namens Bugmann, der in Kaiserstuhl stationiert war und seinerseits ebenfalls einen Bericht an seine Vorgesetzten verfasst hat.

Wieviele Treffer waren es?

Laut dem Rapport der Polizeistation Kaiserstuhl (Bugmann) waren es 71 Treffer. Der Rapport der Polizeistation Weiach (mutm. Pol Sdt Bill) spricht hingegen laut der Literatur von 77 Treffern:

«Unmittelbar nach dieser Attacke [auf einen Güterzug zwischen Lottstetten und Rafz] beschossen vier amerikanische Kampfflugzeuge zwischen 13.03 und 13.05 Uhr einen weiteren Güterzug, der mit einer Dampflokomotive von Weiach-Kaiserstuhl nach Zweidlen unterwegs war. 77 Geschosse trafen die aus 12 Güterwagen und einem Personenwagen bestehende Zugskomposition. Auch dieser Angriff verletzte vier Personen und richtete beträchtlichen Sachschaden an.» (Gut 2003, S. 336; Kapitel 5.3.3 Luftangriff auf einen Güterzug bei Rafz (1944); sowie Fn-69)

Interessanterweise ist hier von einem Güterwagen weniger die Rede als im Aargauer Rapport, den Willi Gautschi verwendet hat. Auch die Zeitangaben differieren um bis zu zehn Minuten, vgl. den Augenzeugenbericht in der NZZ (Bild unten).

Fussnote 69 lautet: «StAZ N 1102.4 Neutralitätsverletzungsschäden, Beschiessung von S.B.B.-Güterzügen durch U.S.A.-Flieger am 9.9.1944, Polizeirapport der Pol.Stat. Weiach v. 10.9.1944.»

Dossier im Bundesarchiv

«Das Ereignis hat also nicht nur in den Akten der Zürcher Kantonspolizei Eingang gefunden. Sondern auch in die der Aargauer Kapo. Und wahrscheinlich dürfte es im Bundesarchiv auch noch ein Dossier geben.», führt die e-mail Brandenbergers an Schilling weiter aus.

Ein solches Dossier gibt es tatsächlich: CH-BAR E2001E#1967/113#1629*. Es befasst sich allerdings primär mit den materiellen Schäden der Grenzverletzung durch die US-Jagdflugzeuge und den ins Diplomatische reichenden Fragen der Entschädigungsmodalitäten.

Zwei oder vier Jagdflugzeuge?

«Nach nochmaliger Durchsicht der von den damaligen Tageszeitungen publizierten (und von mir [in Weiacher Geschichte(n) Nr. 41] verwerteten) Augenzeugenberichten scheint es im übrigen so zu sein, dass jeweils nur zwei Flugzeuge am eigentlichen Angriff beteiligt waren, derweil die beiden andern als Späher über dem Geschehen kreisten. Das würde erklären, weshalb der eine Zeuge davon sprach, VIER Flugzeuge hätten sich aus dem Rafzerfeld Richtung Kaiserstuhl bewegt und ein anderer davon, es seien ZWEI Flugzeuge gewesen (die nördlich Weiach angegriffen hätten). Das könnte ein Standard-Verfahren für den Jagdkampf gewesen sein.»  Soweit die Auszüge aus dem e-mail an Schilling.

In welchem Garten stand der Augenzeuge?

Quelle: NZZ, N° 1532, 11.9.1944

«Ich befand mich gerade in einem etwa 600 Meter von der Bahnstation Weiach-Kaiserstuhl entfernten Garten, als von jenseits des Rheins kommend, das Motorengebrumm fremder Flugzeuge immer stärker vernehmbar war.» (vgl. auch – leicht abweichend – die Variante im Wehnthaler, in: WG(n) 41, S. 85)

Dieser Abstand trifft lediglich für die Gärten der Kaiserstuhler Vorstadt sowie des Weiacher Bedmen zu. Beim Augenzeugen könnte es sich also auch um einen Kaiserstuhler gehandelt haben (und nicht zwingend einen Weiacher, wie ich im März 2003 noch angenommen habe).

Wie man der Litanei obiger Fragenstellungen entnehmen kann, besteht noch etlicher Forschungsbedarf, insbesondere was die Auswertung der beiden Polizeirapporte sowie der Fotodokumentation betrifft.

Ausgewählte Quellen und Literatur

  • Polizeistation Kaiserstuhl (Bugmann) an Polizeikommando; Kaiserstuhl, 10. September 1944. PKAr [Polizeikommando-Archiv]. Mutmasslich Staatsarchiv des Kantons Aargau. Signatur: unbekannt.
  • Polizeirapport der Pol.Stat. Weiach v. 10.9.1944. In: Neutralitätsverletzungsschäden, Beschiessung von S.B.B.-Güterzügen durch U.S.A.-Flieger am 9.9.1944. Staatsarchiv des Kantons Zürich. Signatur: StAZH N 1102.4, mutmasslich Nr. 11.
  • Angriffe amerikanischer Flieger auf schweizerische Eisenbahnzüge und Flugzeuge. In: Neue Zürcher Zeitung. Morgenausgabe, N° 1532, 11. September 1944, S. 1.
  • Beschiessung von 2 fahrenden Güterzügen bei Rafz und Weiach durch amerik. Jäger am 9. September 1944. Dossier im Schweizerischen Bundesarchiv, 1944-1948. Signatur: CH-BAR E2001E#1967/113#1629*
  • Geschichte des Kantons Aargau, Bde. 1-3. – Halder, N.: Bd. 1: 1803–1953. Verlag zur Neuen Aargauer Zeitung, Aarau 1953, 367 S. – Staehelin, H.: Bd. 2: 1830–1885. Baden Verlag AG, Baden 1978, 469 S. – Gautschi, W.: Bd. 3: 1885–1953. Baden Verlag AG, Baden 1978, 673 S.
  • Geschichte des Kantons Zürich, Bde. 1-3. – Bd. 1: Frühzeit bis Spätmittelalter. Zürich 1995. 536 S. – Bd. 2: Frühe Neuzeit, 16. bis 18. Jahrhundert. Zürich 1996. 551 S. – Bd. 3: 19. und 20. Jahrhundert. Zürich 1994. 518 S.
  • Brandenberger, U.: Amerikanische «Luftgangster»? 9. September 1944: US-Luftwaffe beschiesst Güterzüge bei Rafz und Weiach. Weiacher Geschichte(n) Nr. 41. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, April 2003 – S. 11-16.
  • Gut, F.: Mit der Pranke und dem Zürcher Schild. Gelebte Polizeigeschichte im 20. Jahrhundert. Staatsgewalt, Gefahren, Recht und Sicherheit im Spiegel einer bewegten Zeit. Verlag NZZ, Zürich 2003 – S. 336.
  • Riedel, S.: «Ungebildete Luftgangster». Rafz / Weiach. Versehentlich SBB-Züge beschossen. (Blickpunkt Region). In: Zürcher Unterländer, 9. September 2004 – S. 5
  • Kron, B.: Als die US-Luftwaffe Weiach beschoss. Geschichte und Geschichten aus dem Unterland. In: Tages-Anzeiger Unterland, 21. August 2008, S. 54.
  • Brandenberger, U.: In memoriam Mina Moser-Nepfer, 12.3.1911-27.7.2017. WeiachBlog Nr. 1349, 31. August 2017.
[Veröffentlicht am 10. September 2024 um 03:01]

Sonntag, 8. September 2024

Wehrmannspoesie von der Spitze des «Römerturms»

Pistolenschützen aus unserer Region ist es ein Begriff, das sog. «Römerturmschiessen». Organisiert wird es vom 1931 gegründeten Pistolenklub Kaiserstuhl und Umgebung. Durchführungsort ist jeweils der 1956 erbaute Schiessstand auf Weiacher Boden (Schützenweg 8), mit Kugelfang am Haslirain, direkt hinter dem ehemaligen Lager der Holz Benz AG südlich der Hauptstrasse Nr. 7 (Basel–St. Margrethen).

Der Begriff «Römerturm» für das Kaiserstuhler Wahrzeichen, das die südseitige Spitze des befestigten Stadtmauerdreiecks bildet, ist zwar im Volksmund nach wie vor verankert, transportiert aber eine durch den Stand der historischen Forschung nicht bestätigte Vorstellung, nämlich, dass zumindest seine Fundamente aus der Zeit des Römischen Reichs (um 400 n. Chr. in unserer Gegend untergegangen) stammen. 

Nicht von den Römern gebaut

Diese bis weit ins 20. Jahrhundert kolportierte Vermutung lässt sich jedoch nicht belegen, weder mit archäologischen Funden noch mit typologischen Befunden des Baustils. Der Obere Turm, wie er laut Franziska Wenzinger Plüss im Historischen Lexikon der Schweiz genannt wird, ist «archäologisch um 1260 datiert» und wurde «nach einem Brand 1360 auf die heutige Höhe aufgestockt». Er ist also dem Hochmittelalter zuzurechnen und wurde wohl im Zusammenhang mit der Gründung der Stadt Kaiserstuhl unter Beteiligung der Freiherren von Regensberg erbaut.

Wie dem auch immer sei: Es gab über Jahrhunderte hinweg einen Turmwächter, der laut einem Entscheid von 1548 das Recht auf 8 Klafter Holz aus dem Weiacher Gemeindewald hatte (vgl. WeiachBlog Nr. 1664). Durchaus gerechtfertigt, denn er diente den Weychern von seinem erhöhten Standort aus ja auch als Feuerwächter.

Militärischer Beobachtungspunkt

Für die heisse Phase des Zweiten Weltkriegs, als die Schweiz im Frühjahr 1940 jederzeit mit dem Angriff deutscher Divisionen rechnen musste, ist die Besetzung des Turms mit einer Wache schriftlich belegt. 

Jeder, der schon einmal im Militär Wache geschoben hat, weiss, wie langweilig das sein kann. Es läuft – glücklicherweise – in aller Regel nichts. Jedenfalls nichts, was des Meldens pflichtig und würdig wäre. Wie es in den Tagesberichten der Multinationalen Brigade Süd der KFOR bei den meisten obligatorischen Berichtspunkten jeweils hiess: «NSTR» (nothing significant to report), manchmal scherzhaft – und leicht vulgär – gar «ABNSTR» (absolutely bloody nothing...). Vorteil: Solche Berichte lesen sich in Windeseile, wenn man sich nach einigen Tagen Abwesenheit wieder auf den neusten Stand bringen muss.

NSTR?

Zu den Pflichten des Kommandanten (oder eines dazu bestimmten Offiziers) gehört es, die Wachtjournale zu konsultieren. Und da fand sich am «Sonntag, den 31. März 1940» ein poetisches Äquivalent zu diesem NSTR:

«Der Abend so schön, so sonnig und klar,
die Wacht auf dem Turm ist wunderbar,
das Bild das wir haben vor Augen so schön,
die Sonne bescheint es im Abendglüh'n.
Ich schaue hinüber auf das schöne Schloss =
[Röteln]
Dass [sic!] Bild, es ist einzig, ein wahrer Genuss.
Ich blicke hinüber, hinab und hinauf
drum weil ich nichts melde, so schreib ich das auf.»

Hauptmann Rohrer, Kdt V/269, kopierte diese Zeilen ins Tagebuch und vermerkte darunter:

«Heute gedichtet von der Wache auf dem Römerturm 
= Füs. Boll, Eduard, 1896, Bachs, Landwirt u. Meisterschütze.
»

Sozusagen eine Statusmeldung der Motivation, mit der die Wacht am Kaiserstuhler Rhein von den nicht mehr ganz jugendlichen Wehrmännern absolviert wurde.

Quelle

Samstag, 7. September 2024

Meldehunde-Übung zwischen Kaiserstuhl und Weiach

Gemäss dem im Zweiten Weltkrieg geltenden Dienstreglement musste der Einheitskommandant ein Tagebuch führen (Ziff. 72). In einem dafür eigens vorgesehenen Büchlein. Mit fixen Berichtspunkten und vorgeschriebenen Beilagen (z.B. die Tagesbefehle). Am Ende des Aktivdienstes haben die meisten – leider längst nicht alle – Einheiten ihre Tagebücher dem Armeearchiv abgeliefert. Deshalb findet man sie heute noch im Schweizerischen Bundesarchiv.

Wie hält man die Verbindung aufrecht?

Dem Eintrag zum 17. Mai 1940 im Tagebuch Gz. Füs. Kp. V/269 kann man entnehmen, dass man sich – vielleicht angestossen durch den Telefonverwirrungsvorfall am 19. April (vgl. WeiachBlog Nr. 2140) – auch Gedanken zur Frage gemacht hat, wie man denn kommuniziert, falls die Telefonverbindungen ausfallen (z.B. gekappt durch Saboteure) und es nicht möglich oder opportun ist, einen Soldaten als Meldeläufer einzusetzen, um die vorgesetzte Stelle zu orientieren.

Pestalozzi-Kalender 1941 (Ausgabe für Knaben), S. 306.

Die Antwort auf diese Frage war schon im 1. Weltkrieg erprobt worden: Meldehunde! 

Der Schweizer Soldat vom 6. März 1940 beschreibt sie wie folgt: «Nicht weniger wichtig und anstrengend [als derjenige der Verwundetensuchhunde] ist der Dienst der Meldehunde. Je paarweise mit ihren Führern zu einer Equipe zusammengestellt, haben sie den Melde- und Verbindungsdienst bis zu den äußersten Posten am Gegner sicherzustellen und die Kriegsgeschichte ist reich an Beispielen, in welchen ganze Grabenbesatzungen ihr Leben nur der restlosen Pflichterfüllung eines Meldehundes zu verdanken haben. Bei Nacht und Nebel, mitten im größten Kampflärm findet sich der Meldehund mit seiner Meldung zurück zum rückwärtigen Posten, keuchend vor Anstrengung läßt er sich die Meldekapsel abnehmen, ein leichtes Flattieren ist ihm Lohn genug, um, wenn es verlangt wird, den gleichen Weg wiederum unter die Läufe zu nehmen.»

Und so verwundert es nicht, dass man diese wertvollen Mitstreiter auch im Grenzfüsilierbataillon 269 ausprobiert hat. Für die Meldungsübermittlung zwischen den Kommandoposten der Grenzfüsilierkompanie V/269 im herrschaftlichen Haus zur Linde vor den Toren Kaiserstuhls zum Kommandoposten des Grenzfüsilierbataillons 269 im alten Dorfkern von Weiach:


«2115-2400: Übung für Meldehunde.
Organisation: 2 Mann + 3 Hunde.
Aufgabe: Verbindung herstellen zwischen KP V/269 und KP Bat 269 in Weiach. Benötigte Zeit feststellen.
Der als zuverlässig bekannte Hund: "Gürk" durchläuft die Strecke hin und zurück in zusammen 12-14 Minuten. "Cany" lief in der gleichen Zeit. – Der Lernhund "Lei" konnte den Weg noch nicht finden.»

Brieftaube auf vier Pfoten

Die zurückgelegte Strecke entspricht etwa vier Kilometern. Rennen Sie die mal mit einem Schnitt von 3 min/km! – Die angegebene Zeit scheint auch die Auswechslung der Nachricht in der am Hundehalsband befestigten Metallkapsel zu umfassen. Wenn man einen solchen Meldehund hat, dann ersetzt der also locker einen Meldefahrer auf dem Velo, der sich beeilen muss, um diese Zeit zu erzielen.

In späteren Jahrzehnten gab es in der Schweizer Armee das fliegende Äquivalent, eingesetzt vom Brieftaubendienst, dessen Kragenspiegel eine goldene Taube auf silbergrauem Grund zeigte. Tauben können längere Strecken zurücklegen, sind unauffälliger als Hunde und weniger in Gefahr vom Feind (oder einem Jäger, der einen wildernden Hund identifiziert) abgeschossen zu werden.

Berichte in der ASMZ schon 1883, vom späteren General 1934 eingeführt

In der Fachliteratur der Offiziere, der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitung (ASMZ) wird schon etliche Jahre vor der Jahrhundertwende über Versuche in Deutschland und Frankreich berichtet, solche sog. Kriegshunde für Armeezwecke dienstbar zu machen.

Kriegshunde wurden bei der Schweizerischen Armee «nach vielen zaghaften Anläufen» offiziell jedoch erst 1934 eingeführt: Laut der Zeitschrift des Rotkreuzdienstes auf Initiative des damaligen Kommandanten des 1. Armeekorps, dem späteren General Guisan. Der Artikel beschreibt die Ausbildung dieser Hunde, die vor allem als Verwundetensuchhunde auf dem Gefechtsfeld zum Einsatz kommen sollten. Meldehunde waren da nur eine weitere Einsatzvariante. Ein solcher Militärhund wurde seinem militärdienstpflichtigen Hundeführer fix zugeteilt, der ihn ausser Dienst bei sich zu Hause auf eigene Kosten pflegen und füttern musste. Dafür war er immerhin hundesteuerfrei. Und nach fünf Jahren ging er ins Eigentum des Hundeführers über.

Quellen

[Veröffentlicht am 8. September 2024 um 18:11 MESZ]

Freitag, 6. September 2024

Weiacher Stationsbeamter entging kaltblütigem Verbrecher

Heute vor 80 Jahren wurde das 1876 erbaute Stationsgebäude Weiach-Kaiserstuhl von einem Einschleichdieb heimgesucht. Der minderjährige Täter, der aus der Anstalt Bellechasse entwichen war, hatte in einem unbewachten Moment das Büro geplündert.

Und so wurde er zwölf Tage später im Schweizerischen Polizeianzeiger zur Verhaftung ausgeschrieben:

Serienverbrecher, spezialisiert auf SBB-Büros

Einen simplen Einschleichdieb hätte man nicht mit gleich drei Bildern gesucht. Hier ging es mittlerweile um wesentlich Gravierenderes, wie man der Neuen Zürcher Zeitung, Nummer 1564 vom 16. September 1944 auf Seite 6 entnehmen kann:

«Da wir die Fahndung nach dem flüchtigen Mörder des Dr. Waldemar Ullmann in Mammern unterstützen möchten, bringen wir das Bild des Täters. Es handelt sich um Thalmann Emil. geb. 30. Oktober 1925 in Luzern, von Tannegg (TG), Sohn des Emil und der Therese, geb. Göllers, ledig. Hilfsarbeiter. Signalement: 172 cm, Statur schlank, Haare dunkelblond rötlich, Stirne gewölbt. Augen hellblau, Nase leicht wellenförmig, Zähne vorn vollständig, Gesicht länglich, trägt hellbeigefarbenen Mantel, ohne Hut. Thalmann hat am 14. September um 20 Uhr 20 in Mammern Dr. med. Waldemar Ullmann mit einer automatischen Pistole, Kal. 6,85 mm, durch mehrere Schüsse getötet. Der Täter ist am 30. August 1944 aus der Anstalt Belle-Chasse entwichen. Seither hat er auf den Bahnstationen Sihlbrugg, Reckingen und Weiach Einbruch- und Einschleichediebstähle verübt. Thalmann ist ein gemeingefährlicher Bursche. Das Publikum wird von der Polizei um Mithilfe bei der Fahndung nach diesem Verbrecher ersucht. Mitteilungen sind zu richten an das Polizeikomando [sic!] Zürich oder Thurgau oder an den nächsten Polizeiposten.»

Ist mit Reckingen die Ortschaft im Goms gemeint? Die hat nämlich auch eine Bahnstation. Wahrscheinlicher ist, dass sich der Redaktor verschrieben und die Schreibweise der badischen Ortschaft sowie des Laufkraftwerks übernommen hat. Und so ist es auch, wie man dem Schweizerischen Polizeianzeiger entnehmen kann. 

Die Sortierkassette landete im Aborthäuschen

Der Text zu den erkennungsdienstlichen Lichtbildern des Polizeikommandos Schwyz, eingebracht durch die Kantonspolizei Zürich, lautet nämlich wie folgt (Absätze eingefügt durch WeiachBlog):

«14 363. Thalmann, Emil, des Johann Emil und der Theresia Göller, 30.10.25 Luzern, von Tannegg/TG, Handl., früher im Schloss Eugensberg, Salenstein, am 30.8.44 aus Strafanstalt Belle-Chasse entwichen (Art. 13 280, J. 1944), 172 cm, Sta. schlank, H. d'blond-rötl., Sti. gewölbt, zurückw., A. h'blau, N. leicht wellig, Z. vollst., Ges. längl, h'beigef. Mantel, kein Hut, 

Einschl.Diebst., beg. 6.9.44, 14.15-15.45 Uhr, im Stationsgebäude SBB in Weiach-Kaiserstuhl (während sich der Stationsbeamte im Güterschuppen befand), wobei entwendet wurden aus Billettkasse : Fr. 500-600 z. N. der SBB, samt rotem Blechschächtelchen, sowie 1 Schlüssel zum Billettschrank; eine mitentwendete Sortierkassette wurde nachher leer im nahen Aborthäuschen gefunden. 

Th. ist zweifellos auch Täter eines Einbr.Vers. in das Stationsbureau SBB in Sihlbrugg, beg. 4.9.44, 12.30-17.40 Uhr (Art. 14 377, J. 1944); ferner Einst.Diebst. in das Stationsbureau SBB in Rekingen/AG, beg. 6.9.44, 12.30-13 Uhr (durch zertrümmertes Fenster eingestiegen), wobei Bargeld, 2 Bureauschlüssel und 470 Güteranweiskarten abhanden kamen und die Telephonleitungen des Dienst- und eidg. Telephons durchschnitten wurden.

Th. wird auch vom Pol.Kdo. Frauenfeld gesucht wegen Mordes durch Erschiessen, beg. 14.9.44, 20.20 Uhr, in Mammern, an Waldemar Ullmann (Art. 14 362, J. 1944). (Schusswaffe.) Cliché 6313. Pol.Kdo. Zürich.»

Lebhafte Mitwirkung der Bevölkerung an der Fahndung

Diese Gewalttat erschütterte die Ostschweiz, insbesondere den Thurgau, wo man das Opfer kannte und schätzte. Entsprechend beteiligte sich die Öffentlichkeit an der Suche nach dem gemeingefährlichen Gewaltverbrecher. In der Ausschreibung stand nicht von ungefähr der Hinweis Schusswaffe. Für die Polizisten bestand Lebensgefahr, denn Thalmann machte rücksichtslos von der Waffe Gebrauch. Gross war die Erleichterung als der Gesuchte nach sechs Tagen (und einem weiteren Mord an einem Polizisten) endlich verhaftet werden konnte.

Ausführliche Prozessberichterstattung

Als dem Verbrecher rund 13 Monate später der Prozess gemacht wurde, da war das Interesse der Öffentlichkeit gross. Und die Neue Zürcher Zeitung berichtete entsprechend ausführlich (Titel: Der Mordprozeß Thalmann. In: NZZ, Sonntagausgabe, Nummer 1617, 28. Oktober 1945, S. 6):

«Strömender Regen hinderte die Bevölkerung nicht, sich in den Mittagsstunden des Freitags vor dem Rathaus in Weinfelden einzufinden, wo die Kriminalkammer des Obergerichts unter dem Vorsitz von Obergerichtspräsident Dr. Plattner zur Verhandlung über den Doppelmörder Emil Thalmann zusammentrat.

Der Täter 

Emil Thalmann, geboren am 30. Oktober 1925 in Luzern, Bürger von Tannegg (Thurgau), ist nach Charakter trotz seiner Jugend der Typ des gemeingefährlichen, rücksichtslosen und gefühlskalten Schwerverbrechers. Seine äußere Erscheinung entspricht diesem Bild allerdings nicht. Er ist ziemlich groß und kräftig, seine regelmäßigen, eher weichen Gesichtszüge sind unauffällig. Trotzdem war die unter den Kleidern verborgene Fesselung und die ständige Bewachung durch einen Polizisten keine überflüssige Sicherheitsmaßnahme; denn Thalmann ist nicht nur ein zu allem entschlossener Verbrecher, sondern auch ein raffinierter Ausbrecher, der bisher noch aus jeder Anstalt entweichen konnte. Teilnahmslos folgte er den Verhandlungen, und selbst bei der Schilderung seiner Mordtaten zeigte er nicht die geringste Gefühlsbewegung. 

Unverkennbar kam die Persönlichkeit des Angeklagten zum Durchbruch, als ihm Gelegenheit zu einem Schlußwort gegeben wurde. Zuerst polemisierte er gegen den amtlichen Verteidiger, der ihm aufgezwungen worden sei, dann gegen den Gerichtspräsidenten, dem er schon bei einer früheren Gelegenheit gegenüberstand; und so machte er sich zum Ankläger gegen alle, die sich im Laufe der Jahre schon mit ihm zu beschäftigen hatten. Den Jugendanwalt in Luzern, der unermüdlich das Beste für Thalmann wollte, nannte er einen „Feigling, der ihn in die „schlechteste Anstalt nach Ober-Uzwil gesteckt habe. Auch über die Behandlung in der Irrenanstalt St. Urban beklagt er sich. Dr. Ullmann, der Leiter der Kuranstalt Mammern, bei dem sein Vater Arbeit gefunden hatte und der sich dafür einsetzte, daß Thalmann ins Elternhaus zurückkehren konnte, wird von ihm als „Wucherer“ bezeichnet, der die Familie auseinander gerissen habe und· in Schulden und damit ihn zu neuen Diebstählen getrieben habe. Thalmann übergeht seine zahlreichen in diese Zeit fallenden Einbrüche in Stationsgebäude, bei denen er teilweise Beamte mit der Schußwaffe bedrohte, und die Schüsse, durch die er bei einer solchen Gelegenheit am 22. April 1943 in Sisikon einen Bahnbeamten schwer verletzte [daher die Bilder der Kapo SZ! – Anm. WeiachBlog], er verweilt dafür umso ausführlicher bei der Behandlung im „Narrenhaus“ Münsterlingen (er war dort zu erneuter Begutachtung eingewiesen). Trotz seiner Gefährlichkeit ordnete die Kriminalkammer im Dezember 1943 seine Einweisung in eine geschlossene Erziehungsanstalt an. In der ganzen Schweiz war Bellechasse die einzige Anstalt, die sich nach monatelangen Verhandlungen bereit erklärte, Thalmann aufzunehmen. Man ist nicht erstaunt, daß er sich in endlosen Ausführungen über die schlechte Verpflegung äußert. Eine ernste Mahnung des Präsidenten, nun endlich zur Sache zu sprechen, bleibt erfolglos. Nachdem auch die zweite Mahnung nichts nützt, wird Thalmann abgeführt.

Anklagebegründung 

Staatsanwalt Dr. Gsell hob einleitend die für einen Minderjährigen außerordentliche Gefährlichkeit des Angeklagten hervor und betonte, daß die Bevölkerung dauernd vor einem solchen Menschen geschützt werden muß, auch wenn er nach dem Gesetz höchstens zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt werden kann. Es ist traurig, daß man bei einem so jungen Menschen, der eigentlich erst am Anfang seines Lebens steht, jede Hoffnung auf Besserung aufgeben und nur noch an die Sicherung denken muß. Eine gewisse Erklärung dieser Erscheinung kann in den Jugend- und Familieneinflüssen des Angeklagten erblickt werden, in der Hauptsache muß sie aber in ihm selbst gesucht werden. Als sein Vater von Dr. Ullmann als Gärtner in den Dienst der „Stiftung Eugensberg“ genommen wurde, fand auch der Angeklagte dort Beschäftigung, nachdem er wegen seiner als Jugendlicher begangenen Verfehlungen in verschiedenen Anstalten untergebracht worden war, immer versagt und immer wieder durchgebrannt war. Und als er wegen der neuen Delikte nach Bellechasse eingewiesen wurde, verstand er es, durch scheinbares Wohlverhalten eine Fluchtgelegenheit zu schaffen. Am 30. August 1944 entfloh Thalmann und am gleichen Tag beging er den ersten einer Reihe von Velodiebstählen. Auf gestohlenen Rädern schlug er sich durch die halbe Schweiz, unterwegs beging er Einbrüche in Stationsgebäuden und Diebstähle in Bauernhäusern. Am 6. September fielen ihm im Bahnhof Weiach bei einem Einbruch fast tausend Franken in die Hände [Die Differenz zur Ausschreibung im Polizeianzeiger ist bemerkenswert – Anm. WeiachBlog]. In einer Waffenhandlung in Olten kaufte er eine Pistole und zwölf Patronen. 

Am Abend des 14. September nach 20 Uhr erschlich er sich unter dem falschen Namen „Schenk“ den Zutritt zu Dr. Ullmann. Im Sprechzimmer überreichte er ihm einen Brief, in dem er auf erpresserische Weise eine angebliche Lohnforderung von 3700 Franken geltend machte. Der mit seinem richtigen Namen unterzeichnete Brief schloß mit den Worten „meinen Lohn oder Ihr Blut!“. Während Dr. Waldemar Ullmann diesen Brief las und dabei die wahre Person des späten Besuchers erkannte, verriegelte Thalmann die Zimmertüre und machte seine Pistole schußbereit. Es scheint dann zu einem Handgemenge gekommen zu sein, in dessen Verlauf Thalmann aus nächster Nähe fünf Schüsse gegen sein Opfer feuerte, die sofort tödlich wirkten. Er konnte unbemerkt entfliehen, doch bestand nach dem aufgefundenen Drohbrief kein Zweifel über die Täterschaft. 

Bei einem Einbruch in einem Bauernhof bei Mammern fiel Thalmann am 16. September neben einem Fahrrad und Kleidern auch das Stilett in die Hände, das er bei der Verhaftung unter dem Kopfkissen verborgen hatte. Unterdessen war die Fahndung unter lebhafter Mitwirkung der Bevölkerung auf breiter Basis aufgenommen worden. Starke Polizeikräfte verschiedener Kantone verfolgten jede mögliche Spur und überwachten den Verkehr. Im Rahmen dieser Aktion standen am Vormittag des 18. September Korporal Johann Altorfer und ein Begleiter von der Kantonspolizei Zürich auf der Frauenfelderstraße zwischen Attikon und Wiesendangen Wache. In einem Radfahrer glaubten sie Thalmann zu erkennen, und unverzüglich nahmen sie seine Verfolgung auf. Thalmann benützte seinen Vorsprung, um unbemerkt seine Waffe schußbereit zu machen. Sobald Korporal Altorfer ihn erreichte, tötete er ihn durch einen Kopfschuß. Thalmann konnte fliehen. Sobald er merkte, daß ihm der Polizist zu folgen versuchte, schoß er auf ihn. Der erste Schuß verfehlte das Ziel, der zweite prallte am Brillenfutteral des Polizisten ab, ohne eine Verletzung zu verursachen. 

Bei einem weitern Einbruch in der Nähe von Winterthur stahl Thalmann neben andern Gegenständen einen Militärkarabiner und Munition, denn für seine Pistole hatte er nur noch eine Patrone. Die am Abend des 20. September in einem Gasthof in Felben bei Frauenfeld erfolgte Verhaftung Thalmanns wurde von der Bevölkerung der ganzen Gegend zwischen Zürich- und Bodensee als Befreiung empfunden, denn es war jedermann klar, daß dieser Verbrecher jeden Widerstand mit Gewalt zu brechen gewillt war. 

Der Staatsanwalt schilderte das bewegte Leben des Angeklagten, dessen außerordentliche Gefährlichkeit schon früh erkannt wurde. Schon im Jahre 1943 hatte der Psychiater in Münsterlingen Thalmann eines Mordes für fähig erklärt. Tatsächlich hat er nach seinem eigenen Zugeständnis den Mordplan gegen Dr. Ullmann schon in Bellechasse erwogen. Vorbereitung und Ausführung zeigen, wie planmäßig und überlegt er vorging. Einen berechtigten Grund zu Haßgefühlen gegen Dr. Ullmann konnte er nicht haben. Der Getötete war ein allgemein beliebter, gütiger Mensch, der in andern Leuten immer nur das Gute und Anständige sehen wollte; diesem Idealismus ist er schließlich zum Opfer gefallen. 

Auch bei der Abgabe der Schüsse auf die Polizisten war Thalmann zum voraus entschlossen, nicht vor der Vernichtung von Menschenleben zurückzuschrecken, um sich die Fortsetzung der Flucht zu ermöglichen. In Einklang mit der ganzen Persönlichkeit des Angeklagten offenbaren diese Taten „seine besonders verwerfliche Gesinnung und seine Gefährlichkeit“; es handelt sich daher um wiederholten Mord und Mordversuch (Art. 112 StGB). Die dreizehn Diebstähle (mit einem Deliktsbetrag von annähernd 5000 Franken) und ein gleichartiger Diebstahlsversuch sind in doppelter Hinsicht qualifiziert, weil sie gewerbsmäßig begangen wurden und weil sie ebenfalls die besondere Gefährlichkeit des Täters offenbaren (Art. 137, Zif. 2 StGB). Bei der wiederholten Verletzung militärischer Geheimnisse (Art. 106 MStGB), begangen durch Photographieren eines im Reduit gelegenen Militärflugplatzes und militärischer Objekte an der Grenze, konnten die Motive nicht eindeutig abgeklärt werden. 

Thalmann ist bisher dreimal psychiatrisch begutachtet worden. Eine Geisteskrankheit konnte nicht festgestellt werden, wenn auch die Möglichkeit eines spätern Ausbruches von Schizophrenie nicht ausgeschlossen ist. Er ist hochgradig verschlossen, trotzig, bindungsunfähig, ein asozialer Psychopath. Nach den Gutachten muß Thalmann zweifellos als vermindert zurechnungsfähig gelten. Zugleich wird aber seine dauernde Gemeingefährlichkeit hervorgehoben. Als Minderjähriger kann Thalmann aber nicht lebenslänglich, sondern höchstens auf die Dauer von zwanzig Jahren ins Zuchthaus geschickt werden (Art. 100 StGB). Diese Bestimmung ist für den Richter zwingend, wenn sie auch in einem solchen Fall unbefriedigend ist. Die Verminderung der Zurechnungsfähigkeit zwingt den Richter zudem zu einer weitern Reduktion der Strafe. Der Antrag des Staatsanwaltes lautet auf neunzehn Jahre Zuchthaus. Aber gegenüber einem so gefährlichen Schwerverbrecher muß ein dauernder Schutz gesucht und gefunden werden. Deshalb ist im Sinne von Art. 14 StGB seine dauernde Verwahrung anzuordnen. 

Rechtsanwalt Dr. Meyer (Arbon) ist die undankbare Aufgabe der amtlichen Verteidigung des Angeklagten übertragen worden. Unter höhnischem Lächeln Thalmanns führt er aus, daß sich aus dem Inhalt der Gutachten im Gegensatz zu deren Schlußfolgerungen die vollständige Unzurechnungsfähigkeit des Angeklagten ergebe, weshalb von einer Bestrafung Umgang zu nehmen sei, was allerdings nicht ausschließen könne, daß Thalmann wegen seiner unbestreitbaren Gemeingefährlichkeit in eine Heil- oder Pflegeanstalt eingewiesen werden müsse. Falls jedoch das Gericht nur eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit annehmen sollte, so müsse der Anschlag auf Dr. Ullmann als Totschlag betrachtet werden, denn der Angeklagte habe in erster Linie Geld erhalten wollen und erst im Verlauf des Handgemenges geschossen und sich daher in einer heftigen und entschuldbaren Gemütsbewegung befunden. Bei den Schüssen auf die Polizisten handle es sich um einfache vorsätzliche Tötung (Art. 111 StGB), oder um Totschlag (bzw. Versuch hierzu), denn die Qualifikationsgründe des Mordtatbestandes seien nicht gegeben.

Das Urteil

Nach einer geheimen Beratung von weniger als einer Stunde Dauer eröffnete Obergerichtspräsident Dr. Plattner das Urteil (das Dispositiv, das mit den Anträgen des Staatsanwaltes übereinstimmt, wurde in Nr. 1612 der „N.Z.Z. veröffentlicht). 

Der kurzen Urteilsbegründung ist zu entnehmen, daß das Gericht in den Ausführungen der Verteidigung keinen Widerruf des Geständnisses erblickt und der Ansicht ist, es entspreche den Tatsachen und sei von der Anklage rechtlich richtig gewürdigt worden. Insbesondere mit Bezug auf die Delikte gegen Leib und Leben ist der Tatbestand des Mordes (bzw. Mordversuches) erfüllt, denn in allen diesen Fällen tritt die besondere Gefährlichkeit des Täters deutlich in Erscheinung. Die Art, wie sich Thalmann zur Nachtzeit unter falschem Namen bei Dr. Ullmann einschlich, die Türe abschloß und die Waffe bereit machte, die Art, wie er sofort die Pistole gegen die Polizisten zog, der Diebstahl eines Karabiners mit Munition, als die eigenen Patronen auszugehen begannen, und schließlich die Bereithaltung der drei Waffen im Gasthof in Felben zeigen deutlich, daß bei Thalmann die Tötung absichtlich gegenüber jedermann vorhanden war, der ihn an seiner Flucht hindern wollte; darin liegt seine Gefährlichkeit. 

Bei den militärischen Delikten hätte wohl auch Anklage wegen Landesverrats erhoben werden können. Thalmann hat zeitweise erklärt, er habe Beziehungen zu Agenten des deutschen Nachrichtendienstes aufgenommen gehabt; später machte er geltend, er habe die verbotenen Aufnahmen nur gemacht, um sich nach seiner beabsichtigten Flucht nach Deutschland gegen eine Auslieferung an die Schweiz zu sichern. 

Bei der Strafzumessung mußte das Gericht die Minderjährigkeit und die Verminderung der Zurechnungsfähigkeit berücksichtigen. Diesen Strafmilderungsgründen stehen aber die Häufung schwerer Verbrechen und die Gesinnung und außerordentliche Gefährlichkeit des Täters gegenüber, der keinerlei Reue und Einsicht zeigt. Unbegründet sind vor allem seine Vorwürfe gegen Dr. Ullmann. Die niedrige Entlöhnung hat Thalmann sich selbst und seinen unbefriedigenden Leistungen zuzuschreiben; seine Arbeit hat noch an keinem Ort befriedigt. Das Gericht glaubt, daß in Abwägung der Milderungs- und Schärfungsgründe nur eine geringe Reduktion der Maximalstrafe gerechtfertigt ist und hält die beantragte Strafe von neunzehn Jahren Zuchthaus und zehn Jahren Ehrverlust für angemessen. In Uebereinstimmung mit dem Gutachten muß aber wegen der außerordentlichen Gefährlichkeit des Angeklagten die Strafe allein als ungenügend angesehen werden. Für solche Fälle sieht das Strafgesetz Maßnahmen vor. Gegenüber Thalmann kommt nur die Verwahrung im Sinne von Art. 14 StGB in Betracht. Der Vollzug der Strafe ist daher vorläufig einzustellen. In einem spätern Zeitpunkt wird zu entscheiden sein, ob nach der Verwahrung die Strafe noch zu vollziehen ist.»

Ungewöhnliche Verworfenheit. Ein geborener Verbrecher?

Dieser Fall – wenige Jahre nach der definitiven Abschaffung der Todesstrafe durch die Einführung des Schweizerischen Strafgesetzbuches – hat selbst einem erfahrenen Gerichtsberichterstatter zu denken gegeben. Der Prozessbericht schliesst jedenfalls mit einem Kommentar der besonderen Art:

«Wer täglich großen und kleinen Verbrechern ins Gesicht blickt und sich bemüht, dabei etwas tiefer in ihre Seele zu sehen, wird eigentlich in jedem Fall noch irgendwo einen guten Kern versteckt finden. Ein Besserungs- und Erziehungsstrafrecht will diesen Kern entwickeln und fördern und stützt darauf seine Hoffnung auf eine Resozialisierung. Im Laufe der Jahre sieht man so Hunderte von Verbrechern kommen und gehen, aber es können Jahre vergehen, bis man darunter einem Menschen begegnet, bei dem jedes Suchen nach dem guten Kern vergeblich ist, wie bei Emil Thalmann. Trotz seiner Jugend ist bei ihm nicht das geringste Zeichen menschlichen Fühlens festzustellen, keine Spur von Reue und kein Bedauern mit den wertvollen Menschen, die ihm zum Opfer fielen. Es gehört eine ungewöhnliche Verworfenheit und ein erschreckendes Maß selbstsüchtiger Gefühlskälte dazu, daß ein Minderjähriger, der gefesselt und bewacht als doppelter Mörder vor dem Richter steht, sich über das Essen in einer Anstalt beklagt, in der er sich durch scheinheiliges Wohlverhalten planmäßig die Möglichkeit zur Flucht verschaffte, um die wiedergewonnene Freiheit sofort planmäßig zur Verübung neuer, schwerster Verbrechen zu benützen.

Man spricht heute nicht mehr leichthin von einem „geborenen Verbrecher“. Besonders wenn es sich um einen so jungen Menschen handelt, sträubt sich das Gefühl dagegen, endgültig den Stab über ihn zu brechen. Aber als Emil Thalmann am späten Abend von einem Polizisten gefesselt zur Bahn geführt wurde, um in die Strafanstalt gebracht zu werden, ließen sein zusammengekniffener Mund und die finsteren Blicke ahnen, daß er nicht an Reue und Sühne, sondern an Flucht und Rache dachte.»