Donnerstag, 30. Juni 2022

Geniale Schwimmbeckenkonstruktion by Jucker Engineering

Alle, die in den letzten fünfeinhalb Jahrzehnten in Weiach zur Schule gegangen sind, kennen mindestens eine Einrichtung des Oberstufenschulhauses Stadel: das Lehrschwimmbecken im Untergeschoss der 1964-1966 erstellten ersten Bauetappe zwischen Schüpfheim und Stadel.

Diese Einrichtung ist deshalb besonders erwähnenswert, weil es das erste Schwimmbad mit höhenverstellbarem Zwischenboden ist, das in der Schweiz gebaut wurde. 

Dies schreibt Heinrich Guggenbühl, langjähriger Lehrer ebendieser Oberstufenschule, in seiner hervorragend mit Quellen belegten ortsgeschichtlichen Monografie über die Gemeinde Stadel aus dem Jahre 1994.

Wenn man sich die zu dieser an sich schon bemerkenswerten Information verfügbare Anmerkung 559 heraussucht, dann staunt man noch mehr. Eine besonders wichtige Rolle spielte beim Bau dieses Schwimmbads nämlich der Oberstufenschulpräsident, Johann Jucker IV. aus der Wagenschmitten-Dynastie von Neerach:

«Die Baukommission, ich [H. Guggenbühl] war deren Aktuar, besichtigte Hubböden in Deutschland. Wir sahen recht merkwürdige Systeme. Die genial-einfache Stadler Lösung, nach dem Prinzip der einfachen Rolle, zeichnete Schulpräsident und Schmiedemeister Johann Jucker im Hotel in Hamburg auf die Rückseite einer Speisekarte. Ein anwesender Ingenieur der Firma Schellenbaum u. Co. Winterthur realisierte Juckers Idee. Schellenbaum baute den Zwischenboden in Stadel und noch an vielen anderen Orten.»

Von Guggenbühl ist auch zu erfahren, warum das Schwimmbad im Schulhaus anfangs sehr beliebt war: «Es stand lange Zeit der Öffentlichkeit abends zur Verfügung. Die anfänglich sehr guten Besucherfrequenzen gingen aber zurück, als in der näheren Umgebung eigentliche Hallenbäder wie die «Hirslen» in Bülach oder die «Erlen» in Dielsdorf gebaut wurden, so dass schliesslich der Betrieb defizitär wurde.»

Sei's drum: als Einwohner von Weiach kann man schon ein bisschen stolz darauf sein, dass eine in der Region bekannte Unternehmerfamilie, die über familiäre Verbindungen auch dem Baumgartner-Jucker-Haus mitten im Dorfkern ihren Namen gegeben hat, das Konstruktionsprinzip des Lehrschwimmbeckens massgeblich geprägt hat. Denn Johann Jucker IV. war der Bruder von Ruth Baumgartner-Jucker, der letzten Eigentümerin der Liegenschaft der «unteren Amtsrichters» bevor sie in Gemeindeeigentum überging; vgl. In memoriam «Tante Ruth» (WeiachBlog Nr. 140).

Wer sich die Erfolgsgeschichte der Wagenschmitte Jucker ansieht, die am Standort Neerach mittlerweile über 7 Generationen zurückverfolgt werden kann (Firmengründung 1851; heute Jucker Technik AG; http://www.wagenschmitte.com/ueber-uns.html), versteht auch, warum die Designidee auf der Hamburger Speisekarte keineswegs aus dem luftleeren Raum kam.

Quelle
  • Guggenbühl, H.: Stadel. Raat, Schüpfheim, Stadel und Windlach. Entwicklung einer Gemeinde. Stadel bei Niederglatt 1994 – S. 186 u. 251 (Anm-559).
Nachtrag

Korrektur der Verwandtschaftsangabe. Wenn man seine eigenen Artikel von anno dazumal (WeiachBlog Nr. 140) nicht nur verlinken, sondern auch richtig lesen würde, dann wäre klar gewesen: Johann Jucker IV, der Grossvater des heutigen Seniorchefs der Jucker Technik AG (Johann Jucker VI), war nicht der Vater, sondern der Bruder von Ruth. Denn als Neffe konnte alt Kantonsrat Johann Jucker V nicht der gleichen Generation angehören. -- 5. Juli 2022

Dienstag, 28. Juni 2022

Wegen frei laufenden Hühnern vor dem Bezirksgericht

Das Zusammenleben im Dorf ist nicht immer einfach. Wo es heute eher wegen Katzen Ärger gibt, die herumstreifen und in fremden Gärten Vögel jagen oder ihr Geschäft ausgerechnet im Gartenbeet verrichten, da hat man sich vor bald einem Jahrhundert noch über das liebe Federvieh echauffiert. 

Hühner haben die Angewohnheit, alles aufzuscharren, um an Fressbares zu gelangen. Und sie lassen sich auch von Zäunen nur bedingt abhalten. Um über so eine (aus deren Sicht) lächerliche juristische Grenze wie einen Gartenzaun hinwegzuflattern, reichen die Flügel jedenfalls problemlos. 

Das führt zu Reibereien unter Nachbarn. Einige davon landeten auf dem Tisch des Gemeinderats. Ende der 1920er-Jahre störte sich besonders der Weberliheiri daran, dass seine Nachbarn in der Chälen ihre Hühner frei herumlaufen liessen und diese sich ihre Nahrung dann auch auf seinem Grundstück suchten. 

So beschloss der Gemeinderat am 7. Mai 1928 «auf das Beschwerdeschreiben des Heinrich Meier, Weber's betreffend Laufenlassen der Hühner des Jacob Baumgartner» hin, letzteren schriftlich darauf aufmerksam zu machen, dass er seine Hühner besser zu kontrollieren habe.

Bussgeld wie beim Falschparkieren

Am Müliweg griff der Rat am 27. August 1928 dann erstmals richtig durch: «Anzeige von Meier Jacob im Oberdorf gegen Liebert Luise wegen Unberechtigtem Laufenlassen von Hühnern auf fremdem Eigentum. Luise Liebert wurde mit 10 Frk. gebüsst.» Und ja, das war genau die Frau Liebert, die dem heutigen Ortsmuseum postum ihren Namen gegeben hat.

Dann hagelte es ab November Anzeigen. Eingereicht von Heinrich Meier «gegen Meier Jacob, Wegknecht wegen Uebertretung von Art. 16 der Polizeiverordnung (Laufenlassen von Hühnern)». Am 26. November 1928 wurde der vom Gemeinderat mit 5 Franken gebüsst. 

Kurz darauf ging der Weberliheiri «gegen Rüdlinger Ernst und Meierhofer Albert, Wagner's» vor. Ebenfalls «wegen Laufen- und Weidenlassen von Hühnern auf seinem Eigentum.» Beide wurden am 3. Dezember 1928 vom Gemeinderat mit je 5 Franken gebüsst. 

Und am 15. Dezember 1928 wurde ausserdem «Alb. Meierhofer, Fabrikarbeiter» für dieselbe Übertretung zu Lasten des Weberliheiri gebüsst. Ebenfalls mit 5 Franken. Weshalb Frau Liebert das Doppelte zahlen musste? Bleibt des Gemeinderats Geheimnis.

Fünf Franken von 1928 sind übrigens gemäss swistoval.ch auf heutige Geldwerte umgerechnet je nach Index zwischen 32 und 245 Franken. Vergleichbar ist so eine Busse heute am ehesten mit einer Strassenverkehrsübertretung im unteren Bereich:

  • Konsumentenpreisindex (KPI) -- 32 CHF
  • Historischer Lohnindex (HLI) -- 78 CHF
  • BIP pro Kopf-Index -- 121 CHF
  • BIP-Index -- 245 CHF
Bei den damaligen niedrigen Einkommen dürfte das aber dennoch geschmerzt haben.

Einvernahme durch den Gemeinderat

Ernst Rüdlinger und später auch Albert Meierhofer waren nicht bereit, diese Busse einfach so zu bezahlen. Sie verlangten «gerichtliche Beurteilung» und wurden daher vom Gemeinderat einvernommen. 

«Da der Verzeiger Heinrich Meier seine Verzeigung zurückzieht, wurde beschlossen die Busse aufzuheben und die Kosten wurden dem Verzeigten Ernst Rüdlinger auferlegt.», notierte der Gemeinderatsschreiber unter dem 22. Dezember 1928.

Bei Albert Meierhofer war Heinrich Meier jedoch nicht bereit, seine Anzeige zurückzuziehen, weshalb der Gemeinderat am 29. Dezember 1928 beschloss, «die Akten zur Beurteilung ans Bezirksgericht weiterzuleiten.» Gemeindegutsverwalter Griesser musste die beiden Streithähne nach Dielsdorf begleiten.

Von der Bezirksgerichtskanzlei kam Ende Januar der Bescheid «die vom Gemeinderat Weiach dem Albert Meierhofer, Wagner's auferlegte Polizeibusse wegen Uebertretung von Art. 16 der Polizeiverordnung» sei «aufgehoben worden.» (Protokolleintrag vom 26. Januar 1929)

Nun reichte es dem Gemeinderat mit diesen Federvieh-Streitereien. Am 27. April 1929 beschloss er, «das Verbot betr. Laufenlassen der Hühner wieder zu puplizieren». Von da an sind im Protokollband keine solchen Anzeigen mehr verzeichnet.

Quelle und Literatur

  • Protokoll des Gemeinderates 1928-1934. Archiv der Politischen Gemeinde Weiach; Signatur: IV.B.02.11
  • Brandenberger, U.: Staubplage, Hahnenzins und freilaufende Hühner. Womit sich der Gemeinderat vor acht Jahrzehnten herumschlagen musste. Weiacher Geschichte(n) Nr. 110. Erstmals publiziert in: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, Januar 2009 - S. 18-25 (hier: S. 25, Gesamtausgabe S. 447).

Sonntag, 26. Juni 2022

Im Rausch gestritten und das eigene Kind abgestochen

Die beiden letzten WeiachBlog-Beiträge handeln von Temperenzlern und Abstinenzbewegungen sowie der dörflichen Sitte der Schnapsbrennerei samt Eigenkonsum. Gegen das Saufen wurden vielfältige Massnahmen ergriffen, sowohl gesetzgeberisch auf Stufe Bund wie durch Kantone und Gemeinden (letztere v.a. über Wirtshausverbote).

Bekanntlich hat man in den USA zwischen 1920 und 1933 sogar landesweit die Herstellung, den Transport und den Verkauf von Alkohol per Verfassungszusatz verboten. Dieser Versuch einer totalen Prohibition war nicht zuletzt auf die dort stark in Erscheinung tretende Temperenz-Bewegung zurückzuführen. Die Verbotsstrategie scheiterte kläglich. 

Denn das Ziel, die Kriminalität zu bekämpfen, wurde völlig verfehlt. Gewisse Bereiche der Mafia gelangten durch die sagenhaften Gewinne, die man mit Alkohol machen konnte, erst recht zu Macht und Einfluss (man denke nur an Al Capone). Und selbst die Volksgesundheit verbesserte sich nicht durchgehend, weil vermehrt illegal und teils ohne Fachwissen und Sachverstand Schnaps gebrannt und konsumiert wurde.

Alkoholverbote sind klassische Symptomtherapien. Die dem Missbrauch von gebrannten Wässern zugrundeliegenden Ursachen werden dadurch nicht adressiert. Eine Prohibitions-Strategie mag in der populistischen Politik Punkte bringen, nachhaltig ist sie nicht. Weil zur Prävention von Familientragödien – wie der nachstehend beschriebenen – denkbar ungeeignet.

Was ist da genau passiert?

Dank dem mittlerweile 169 Schweizer Zeitungstitel umfassenden Retrodigitalisierungsprojekt e-npa.ch können wir heutzutage einfacher als früher recherchieren, was zu bestimmten Themen öffentlich gedruckt verbreitet wurde. So auch zum Fall des Alkoholikers Heinrich Aeberle vom April 1881:

«In Weiach hat ein Heinrich Aeberle, nachdem er mit der Frau in Streit gerathen und diese ihm entflohen war, seinen Zorn am eigenen 2 1/2 jährigen Söhnlein ausgelassen, indem er ihm den Wetzstahl in den Bauch stach.» (Der Volksfreund (Chur), 20. April 1881)

«Zürich. Von Weiach (Wehnthal) wird ein gräßliches Verbrechen gemeldet. Der pensionirte und scheints dem Trunke ergeben gewesene Lokomotivführer Eberle (bis vor einiger Zeit viele Jahre in Rorschach wohnhaft), der in Weiach eine Mühle mit Bäckerei und Wirthschaft übernommen hatte, versetzte in einem Anfall von Rausch-Raserei seinem ältesten, etwa 11jährigen Knaben aus zweiter Ehe tödtliche Messerstiche in den Unterleib und suchte auch seine Frau und seine zwei kleinern Kinder zu tödten, die jedoch bis jetzt den erhaltenen Wunden nicht erlegen sind. Der Mörder ist festgenommen und zur Haft gebracht worden.» (Thuner Wochenblatt, Band 44, Nummer 32, 20. April 1881)

Bereits an diesen beiden, bezüglich der Fakten doch sehr unterschiedlichen Beiträgen zeigt sich, dass unterschiedliche Quellen vorgelegen haben müssen. Dasselbe Muster ist nämlich auch in den Folgetagen feststellbar:

«H. Aeberle, Pächter der Mühle in Weiach, ein dem Trunke ergebener Mann, zankte im Rausche mit seiner Frau und stieß dabei in der Wuth seinem 2 1/2 jährigen Knaben den Wetzstahl in den Unterleib. Der Thäter ist verhaftet.» (Zürcherische Freitagszeitung, Nummer 16, 22. April 1881)

Im Stadtzürcher Konkurrenzblatt Neue Zürcher Zeitung fehlt hingegen jede Spur von diesem Fall. Dafür wurde er in der Gallus-Stadt aufgenommen:

«Von Weiach (Wehnthal) wird ein gräßliches Verbrechen gemeldet. Der pensionirte und scheint's dem Trunke ergeben gewesene Lokomotivführer Eberle (bis vor einiger Zeit viele Jahre in Rorschach wohnhaft), der in Weiach eine Mühle mit Bäckerei und Wirthschaft übernommen hatte, versetzte in einem Anfall von Rausch-Raserei seinem ältesten, etwa 11 jährigen Knaben aus zweiter Ehe tödtliche Messerstiche in den Unterleib und suchte auch seine Frau und seine zwei kleinern Kinder zu tödten, die jedoch bis jetzt den erhaltenen Wunden nicht erlegen sind. Der Mörder ist festgenommmen [sic!] und zur Haft gebracht worden.» (Die Ostschweiz, 24. April 1881)

Im Tagblatt der Stadt Biel (Band 19, Nummer 95) vom 23. April 1881 ist derselbe Text wie Tage zuvor im Thuner Wochenblatt abgedruckt.

Interessant an der Meldung, die in Biel, Thun und St. Gallen ins Blatt gerückt wurde, ist, wie Weiach dem «Wehnthal» zugeordnet wird. Das Wehntal steht hier im weiteren Sinne sozusagen als pars pro toto für den gesamten Bezirk Dielsdorf.

Sind Dritte zu Hilfe gekommen?

Schliesslich taucht noch eine dritte Beschreibung der Tat in den Gazetten auf, wieder mit andern Details, insbesondere punkto Alter eines der Opfer und einer Beschreibung des Alkoholkonsums:

«Zürich. In Weiach (Bezirk Dielstorf) hat ein dem Schnapstrunke ergebener Mann, nachdem er wieder eine ganze Maß Schnaps getrunken, seinem 1 1/2 jährigen, ruhig im Bettlein schlafenden Knäblein mit einem Messer den Bauch aufgeschnitten. Das Scheusal wollte auch sein zweites Kind auf diese Art tödten, wurde aber von seiner Frau, die ihn zu Boden werfen konnte, daran verhindert. Wäre der Frau nicht sofort Hülfe gekommen, so hätte er dennoch das Kind und vielleicht auch sie getödtet.» (Zuger Volksblatt, Band 21, Nummer 34, 27. April 1881)

Selbst in rätoromanischer Sprache wurde über diese Tat berichtet. Und die Grundlage ist offensichtlich ein Bericht, wie er auch dem Zuger Volksblatt vorgelegen haben muss: 


(Fögl d’Engiadina, Band 24, Nummer 18, 30. April 1881)

Namensvariante Werach

Nicht ganz so einfach zu finden sind fünf Kurzartikel in französischsprachigen Blättern. Denn dort wird durchgängig die Verschreibung von Weiach zu «Werach» verwendet.

So in La Tribune de Genève (Band 3, Nummer 92), der Ausgabe 2 vom 20. April 1881:

«Zurich. —Un crime horrible a été commis à Werach [sic!]. Un ancien mécanicien nommé Eberlé adonné à la boisson et qui tenait une auberge a, dans un accès de folie furieuse, tué à coups de couteau son fils âgé de onze ans, et grièvement blessé sa femme et deux autres enfants plus jeunes. Le coupable a été arrêté.»

Derselbe Text erschien am 22. April in der Zeitung Le Bien public aus Fribourg sowie der in Porrentruy erscheinenden Zeitung Le Jura (Band 31, Nummer 32) und am darauffolgenden Tag, 23. April, in Le Chroniquer Suisse (Eigenbezeichnung: Journal catholique politique et littéraire) aus Fribourg, sowie dem Journal du Jura (Organe des libéraux jurassiens), das in der Seeländer Metropole Biel/Bienne 6x pro Woche publiziert wurde.

Mit Ausnahme der Tribune de Genève, wo «Weraeh» erfasst ist, liegt hier kein Fehler bei der Texterkennung im Verlauf der Digitalisierung vor.

In dieser vierten Version wurde aus der Mühle mit Bäckerei und Wirtschaft eine «auberge», also ein Gasthof mit Fremdenzimmern, was im Falle Weiach nur der «Sternen» sein könnte. Falls aber die Mühle wirklich das Hauptgewerbe war, dann müsste es sich bei dem mutmasslichen Pachtobjekt um die Mühle im Oberdorf (Müliweg 7) handeln.

Im Burghölzli gelandet?

In diesem Fall Heinrich Eberle wären noch die Gerichtsakten im Staatsarchiv auszuwerten. Diese könnten klären, welche der kolportierten Details näher an den Geschehnissen liegen als andere.

Bislang habe ich unter dem Namen des Täters nur einen Katalogeintrag gefunden, der durchaus auf ihn passen könnte, nämlich in den Krankengeschichten der kantonalen Irrenheilanstalt Burghölzli: «Aeberle, Heinrich, m., (geb. 1836), Landwirt, von Erlenbach. Krankheitsform: Delirium alcoholicum.». Die Akte ist auf das Eintrittsjahr 1898 datiert und trägt die Signatur: StAZH Z 100.7149. Ob es sich um eine Drittperson oder den Mühlenpächter handelt, ist zu klären.

Donnerstag, 23. Juni 2022

Dem Schulkind ein Schnapsbrötli zum Zmorge

Susanna Louise Patteson (1853-1922), eine gebürtige Weiacherin, die 1867 in die USA ausgewandert ist (vgl. WeiachBlog Nr. 1487 und folgende) zeichnet in ihren Jugenderinnerungen die Situation nach, in der sich punkto Alkoholkonsum auch in Weiach bereits Schulkinder fanden. 

Was sich in ihrer eigenen Herkunftsfamilie abspielte und welche Folgen damit verbunden waren, beschreibt sie am Beispiel ihrer Probleme mit der Arithmetik, also dem Schulfach Rechnen:

«I excelled in composition, in anything that related to language or ability of expression. I was often told in those days that I ought to become an actress. But I was poor in arithmetic, and oh, how I hated it! There were days when my brain just simply refused to work during the arithmetic period.

Now to explain what I concluded to be the reason for this, I shall have to relate some family history of which in these days of enlightenment on the subject I am not very proud. It was the custom in those days for every householder to distill his own whiskies and brandies. There such spirits were commonly called schnapps. 

Once in a while my brother and I were sent to bed earlier than usual, for instance when we were being punished for something or other. Then, we would be up earlier than usual in the morning, and at such times we generally found Father and Mother enjoying a glass of schnapps together. If they were then in a forgiving mood, they would pour a little schnapps on slices of bread and give to each of us what we called a “schnappsbrödli.”

Gradually I perceived that the days when my brain wouldn’t work at the arithmetic period were always those on which I had had a schnappsbrödli in the morning.
» (S. 95-96)

Dass damals jeder Haushalt in Weiach laut Patteson seine eigenen hochprozentigen Wässer gebrannt haben soll, hängt direkt mit der Fülle an verfügbarem Obst zusammen. Der Dorfkern war in diesen Jahren ihrer Jugend (und noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein) geradezu von einem Obstbaumwald umgeben. Die heutige Obstgartenstrasse ist da nur eine sehr schwache Erinnerung an diese Zeit.

Wein von eigenen Reben. Alltagsgetränk auch für Kinder

Dazu kamen die Weinberge, welche seit Jahrhunderten das schwach alkoholhaltige Alltagsgetränk lieferten. Auch dieser Umstand findet sich in den Erinnerungen Luisa Griessers (wie sie damals noch hiess):

«In my time home-made wine was the common beverage at meals and between. It was, of course, before the days of the temperance crusade and the organization of the Woman’s Christian Temperance Union, before the advent of the prohibition movement, before Father Matthews’ total abstinence society, Francis Murphy, John B. Gough, Mother Thompson, Frances Willard and all the great prophets and prophetesses who helped to spread world-wide the gospel of temperance. I am happy to say that the W. C. T. U. has a strong organization in Switzerland [Gemeint ist wohl die Blaukreuzbewegung]. The temperance cause has made such progress there that a large percentage of the grapes grown on those fertile slopes is now made into the harmless beverage known as grape juice.» (S. 104-105)

Man sieht: die Schnapsbrötli haben Louise Patteson zu einer überzeugten Temperenzlerin gemacht (zum Begriff vgl. den Beitrag WeiachBlog Nr. 1833). Diese W.C.T.U. wurde übrigens in Cleveland, Ohio, gegründet, derselben Stadt, die zur Heimat der schreibenden Weiacherin wurde.

Mitte des 19. Jahrhunderts war es offenbar noch gang und gäbe, dass am Schulexamen, neben einem Weggli (aus der Bäckerei eines ihrer Verwandten) und einem Cervelat auch Wein auf jedem Schulbank stand: «on every desk a great big one of my godfather’s “ Weggli,” a cervelat sausage and a glass of wine. It was, in fact, just such a feast as we had every year on Examen day.» (S. 107)

Man verwendete den Schnaps allerdings auch für äusserliche Anwendungen (zum Einreiben). Und selbst in Bereichen, die uns nicht gerade automatisch in den Sinn kämen: «Father poured schnapps into our shoes—brother’s and mine. If schnapps has to be made, this is a good way to use it.» (S. 112)

Quelle und Literatur
  • S. Louise Patteson: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 95-96, 104-105, 107, 112.
  • Brandenberger, U.: Die Weiacher Autobiographie einer amerikanischen Tierbuchautorin. WeiachBlog Nr. 1487 v. 13. April 2020.

Dienstag, 21. Juni 2022

Was die Temperenzmusik mit dem Alkohol zu tun hat

Wissen Sie, was «Temperenzler» sind? Heute würde man sie vielleicht eher «Straight Edger» nennen. Für diese Gruppierung gilt: Kein Sex, kein Alkohol, keine Drogen. Abstinenz aus Überzeugung (vgl. für den Begriff; s. auch Literatur unten).

«Die Abstinenzbewegung (auch Temperenz- oder Temperanzbewegung, von lat. temperantia „Mäßigung“) ist eine soziale Bewegung gegen den Genuss alkoholischer Getränke, die Ende des 19. bis Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt hatte». So hebt der einschlägige Wikipedia-Artikel an und erläutert im weiteren Verlauf auch den weltanschaulichen Hintergrund:

«Temperenzler sahen im totalen Verzicht auf Alkohol einerseits einen Ansatz zur Heilung von Alkoholkranken, andererseits eine sozialreformerische Maßnahme, da sie den Alkoholkonsum als Ausdruck mangelnder Tugendhaftigkeit betrachteten, die sie wiederum für die Ursache des Elends der unteren Klassen hielten. Dadurch stand die Abstinenzbewegung der Sittlichkeitsbewegung nahe, die eine moralische Reform der Gesellschaft anstrebte. Die Abstinenzvereine zeichneten sich deswegen auch durch ein hohes Sendungsbewusstsein gegenüber der Arbeiter- und Bauernschaft aus.

Mitte der 1880er Jahre brachte der Basler Professor Gustav von Bunge sozialhygienische Argumente in die Abstinenzbewegung ein: Durch den Alkoholkonsum werde das menschliche Erbgut geschädigt und dadurch die Volksgesundheit gefährdet. Deshalb forderte Bunge ein Alkoholverbot und Abstinenz für die gesamte Bevölkerung.» 

Daraus entstanden ganze Leitfäden für Lehrpersonen, wie 1895 das Temperenz-Handbuch (vgl. die digitalisierte Version in der Sammlung e-Helvetica der Nationalbibliothek: nbdig-47709). Und natürlich an Gesundheitspolitiker und Ärzte gerichtete Abhandlungen, wie die von August Smith mit dem Titel Ueber Temperenz-Anstalten und Volksheilstätten für Nervenkranke. Die für dieselben in Betracht kommenden Erkrankungen und deren Behandlungsweise (2. durchgesehene Auflage, 1899).

Überbordende Hausbrennerei eindämmen

Wenig überraschend, dass sich in diesem Bereich auch in Weiach einiges getan hat: Lehrpersonen, Pfarrer und deren Ehefrauen sowie andere sozial Engagierte (wie der Frauenverein) machten sich im Sinne der Stärkung der Familien für die Abstinenz stark. 

Man sieht den sozialreformerischen Ansatz selbst im blauen Büchlein von Zollinger, wo der langjährige Dorfschullehrer schreibt: «Eine weitere Wohltat [nach dem in Bundesbern erlassenen eidg. Fabrikgesetz von 1877] war die Alkoholgesetzgebung von 1885, da sie die überbordende Hausbrennerei nach und nach einzudämmen vermochte.» (1. Aufl. 1972 – S. 49; PDF, 4.53 MB).

Warum es in diesem Punkt gerade in Weiach Probleme geben konnte, das zeigt sich schon allein an den vielen Obstbäumen, die damals den Dorfkern gleichsam in einem Wald verschwinden liessen, Brennapparate waren natürlich auch verfügbar (vgl. WeiachBlog Nr. 1731 über einen 1840 gestohlenen Kupferhafen). Und vom Vorhandensein von Weinbergen, Wirtschaften und sogar Bierbrauereien wollen wir gar nicht erst anfangen.

Das Phänomen Posaunenchor

Die Temperenzbewegung hatte nicht zuletzt auch christlich-religiöse Wurzeln und wurde von diesen Kreisen aktiv gefördert. Das lässt sich an der Marke «Blaues Kreuz» sehr gut illustrieren, die in der Schweiz seit 1877 aktiv ist. Der Gründer Louis-Lucien Rochat, ein Genfer, war Pfarrer einer Freikirche. Schon damals war der Grundsatz: «Evangelium und Abstinenz – mit Jesus und ohne Alkohol» wegleitend.

Am besten fängt man mit der Abstinenz in frühester Jugend an. Und wie holt man junge Menschen ab? Indem man ihnen Gemeinschaftserlebnisse verschafft, zum Beispiel mit aktivem Musizieren. Aber eben so, dass nach den Proben und Festen keine Saufgelage stattfinden. Das ist man schon allein den Erziehungsberechtigten schuldig.

In unserer Gegend ist dieses Blaukreuz-Vorgehen nachweislich angewandt worden, wie man u.a. dem 2013 publizierten, dicken Farbbildband «Geschichten zu Glattfeldens Geschichte» entnehmen kann. Der Autor, Harry Nussbaumer, widmet der Angelegenheit ein ganzes Kapitel: «Glattfeldens rätselhafter Posaunenchor».

Dieser Posaunenchor war «sehr religiös und alkoholfrei ausgerichtet» und entsprechend dem «Christlichen Musikverband der Schweiz» angeschlossen [Hinweis: Der Verband verfügt über ein Archiv, wo man allenfalls weitere Unterlagen dazu findet]. Für diese Art Musikvereine waren Namen üblich wie Christlicher Musikverein, Posaunenchor, Temperenzmusik oder Blaukreuzmusik

Im September 1903 gab es einen Auftritt des «Christl. Musik-Vereins vom blauen Kreuz Glattfelden». Im selben Jahr wurde auch in Weiach ein Posaunenchor gegründet, vgl. WeiachBlog Nr. 362 u. 716 (s. Literatur unten). 

Blaukreuz-Aktivitäten

Dieser Blaukreuz-Musikverein trat bald in den Nachbargemeinden in Erscheinung, so u.a. auch bei uns: «Und auf den 23. Oktober 1904 wurde für die Kirche Weiach, unter Mitwirkung der Musik- und Gesangvereine der Sektion Glattfelden, ein Blaukreuzvortrag angekündigt. [...]» (Nussbaumer – S. 347)

Welche Aktivitäten die Blaukreuz-Bewegung in unserer Gemeinde entfaltet hat, ist eine noch zu erforschende Angelegenheit. Die schiere Existenz der sog. Blaukreuz-Protokolle im Archiv der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde (ERKGA Weiach; vgl. Quellen und Literatur unten) lässt zumindest erahnen, dass sie nicht grad ganz unbedeutend waren. Einen Hinweis geben auch folgende Zeilen:

«Der Bezirksverband vom Blauen Kreuz von Bülach lud zu einer Propagandaversammlung auf Sonntag, den 24. November 1912, in die Kirche Weiach ein «unter Mitwirkung der Blaukreuz-Musik Glattfelden».» (Nussbaumer – S. 348)

Instrumenten- und Musikantenmangel

Nachdem sich aus dem 1903er Posaunenchor im Jahre 1913 die erste Dorfmusik Weiach gebildet hatte (bereits 1915 kriegsbedingt eingegangen) baten gemäss Visitationsbericht einige «Jünglinge» am 18. Januar 1914 den Weiacher Pfarrer Kilchsperger, er möge «einen Jünglingsverein u. wo möglich einen Posaunenchor gründen. Das erstere geschah, aber das letztere nicht wegen Schwierigkeiten in der Beschaffung von Instrumenten. Die anfängliche Begeisterung verschwand deshalb rasch, u. schon im Dez. 1915 musste die Auflösung des Vereins erfolgen wegen mangelhafter Beteiligung der wenigen Mitglieder.» (Vgl. WeiachBlog Nr. 716).

Man sieht an diesen beiden letzten Beispielen deutlich, wie stark die Rolle der Musik ist. Unklar (aber aus den Umständen heraus nicht auszuschliessen) ist, ob der Übergang zur Dorfmusik mit dem Ablegen des Temperenzcharakters einherging und der Neugründungsversuch von 1914/15 somit sozusagen eine religiöse Abspaltung darstellt.   

Kein Allheilmittel gegen Exzesse

Dass natürlich auch musizierenden Temperenzlern die Temperamente auf fatale Weise durchgehen konnten (zumindest im heissen Süden der USA), zeigt der nachstehende Bericht aus der in Indianapolis in deutscher Sprache erscheinenden «Indiana Tribüne» [sic mit ü!] vom 18. Oktober 1882:

«Der farbige Daniel King in dem Städtchen Kennerville, das zehn Meilen oberhalb New Orleans am Mississippi liegt, war ein so guter Trommler, wie dereinst der kleine Tambour Veit. Am Sonntag vor acht Tagen hatte er einer Procession nach einer demokratischen Ratifications-Versammlung vorgetrommelt. Am nächsten Tage lieh er seine Trommel einer farbigen Musikbande, welche derselben zur Musik während einer republikanischen Versammlung bedurfte. Einige Tage später forderte King seine Trommel zurück, da er dieselbe brauchte, um demokratische Musik zu machen. Die republikanische Musik war gerade zu einer Probe versammelt, und verweigerte die Herausgabe der Trommel, da sie an demselben Abend Temperenzmusik zu machen hatte. King wurde wütend, riß seinem Collegen Trommler das geliebte Instrument vom Leibe und zerschnitt mit seinem Messer beide Felle. Die Temperenz-Musiker zogen ihre Revolver, schossen den Trommler-Virtuosen zusammen und entflohen. Die Mörder werden verfolgt.»

Die Deutschstämmigen stellten gemäss dem American Community Survey noch vor wenigen Jahren (2014) rund 24 Prozent der Bevölkerung des US-Bundesstaats Indiana (vgl. Wikipedia-Artikel Indiana).

Quellen und Literatur
  • Indiana Tribüne (Indianapolis, Marion County), Jahrgang 6, No. 30, 18 October 1882.
  • Protokolle Verein zum blauen Kreuz Weiach und Umgebung (2 Bände, 1905-1937). Archiv der Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Weiach, Signatur: ERKGA IV.B.1.
  • Brandenberger, U.: Dorfmusik Weiach – vor 50 Jahren aus der Taufe gehoben. WeiachBlog Nr. 362 v. 20. Januar 2007.
  • Brandenberger, U.: Jünglingsverein und Posaunenchor. WeiachBlog Nr. 716 v. 19. Dezember 2009.
  • Nussbaumer, H.: Geschichten zu Glattfeldens Geschichte, Glattfelden 2013 – S. 345-348.
  • Knabenhans, A.: Straight Edger fühlen sich nüchtern stark: kein Sex, kein Alkohol, keine Zigaretten. In: Neue Zürcher Zeitung, 29. April 2018.
  • Abstinenzbewegung. In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie (Hrsg); Wikipedia-Autoren, gemäss Versionsgeschichte. Versions-ID: 217519068.

Montag, 20. Juni 2022

Bedmen. Eine Namens- und Flurbeschreibung

Das Gebiet Bedmen, in den Quellen ab dem 16. Jahrhundert auch Bödmen geschrieben, hat im 19. Jahrhundert zwischenzeitlich die Schreibweise Bebnen erhalten. 

Anders als man vielleicht vermuten würde, ist diese Schreibweise auf der Topographischen Karte des Kantons Zürich (Wild-Karte; StAZH A 4; s. Bildauschnitt oben) aus der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht etwa ein Irrtum, sondern auch in lokalen Quellen belegt.

Ein Eintrag im sog. «Visitbuch der obern Classe» lautet nämlich explizit: «31.12.[18]68: Hs. Jak. Meierhofer im Bebnen» (Flurnamenliste Adolf Pfister, 1936-42). Dieser Schulpfleger dürfte der Vater des Unternehmers Albert Meierhofer (1863-1931) und Grossvater der Kinderärztin Dr. h.c. Marie Meierhofer (1909-1998) gewesen sein. Der Bauernhof dieser Familie befand sich an der Kaiserstuhlerstrasse 19 (nach Brand 1952 wiederaufgebaut).

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war aber auch die Schreibweise Bödmen im Umlauf. Besonders Friedrich Vogel verwendet sie in beiden Auflagen seines Ortslexikons des Kantons Zürich:

  • «Bödmen, im, Gegend mit 1 Wohngeb.» (Vogel 1835)
  • «Bödmen, im, Ortsgegend der Gem. Weyach mit 2 Wohnh., die an der Straße nach Kaiserstuhl liegen.» (Vogel 1841)
  • «Bödmen» in Kaufbrief der Meierhofer im Bedmen aus dem Jahre 1902 (Pfister 1936-42)

Was ortsnamen.ch dazu sagt

Grundlagendaten zu den Weiacher Flurnamen wurden von Bruno Boesch im Jahre 1958 gesammelt. So auch zum Namen Bedmen:

Es handelt sich – wie der Name vermuten lässt – um ursprünglich fast rein landwirtschaftliches Gebiet, eine ebene Ackerflur, die früher auch als Wässerwiese genutzt wurde, indem man das Wasser von Sagi- und Mülibach in den östlichen Teil unmittelbar nördlich des Dorfkerns leitete (daher rührt die Sumpf-Signatur südlich des Höhenpunkts 370 auf der Wild-Karte).

Die aus den Unterlagen von Boesch extrahierte Quelle von 1596 (StAZH F II b 245 a) ist dabei irrtümlich in die Belegliste gerutscht. Aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass eine Fläche nördlich der Flur Höh bzw. In der Höh gemeint sein dürfte. Und diese liegt eindeutig Richtung Hard (damals die Richtung ab dem Dorfkern weisend als Hardzelg benannt) und nicht in Richtung Kaiserstuhl (damals: Stadtzelg).

Eine Grenzbeschreibung anhand heutiger Landmarken

Nordwestlich markiert von der ehemaligen Dreschscheune der Elektrizitätsgenossenschaft Weiach (später Lagerhaus Pneu Müller; Grubenweg 1) sowie dem Gemeindewerkhof (Grubenweg 6), verläuft die Grenze des Bedmen in nordöstlicher Richtung diagonal durch das Mehrfamilienhaus Dammweg 14. Dessen südöstliche Hälfte sowie alle weiteren Gebäude am Dammweg (ausser der Nr. 16 und dem nordwestlichen Teil von Nr. 14) gehören zum Bedmen. 

Die Grenze folgt dann dem Bahndamm bis auf die Höhe des Durchbruchs des Dorfbachs, visiert dort auf die Liegenschaft Glattfelderstrasse 10 (südlich Hauptstrasse) und biegt auf halber Strecke nordwestlich des heutigen Eschterhofs in südwestlicher Richtung ab, mit Visierung auf das Gebäude Kaiserstuhlerstrasse 10 (nördlich Hauptstrasse).

Die Begrenzung verläuft weiter in südwestlicher Richtung über die Wiese zwischen Wiesental und Sternen und zieht sich anschliessend an der Geländekante hinter den Liegenschaften an der Kaiserstuhlerstrasse entlang bis zum Ausgangspunkt dieses kleinen Bannumgangs.

Die Tankstelle liegt schon im Bedmen

Vom Dorfkern aus gesehen liegen also die Tankstelle und das ehem. Rest. Wiesental im Bedmen, der alte ehafte Gasthof Sternen (seit 1830 an dieser Stelle) aber noch nicht.

Bereits wieder ausserhalb des Bedmen sind in Richtung Kaiserstuhl das alte Polizistenhäuschen (Kaiserstuhlerstrasse 40, Baujahr 1953) sowie die Landi (ehem. Lagerhaus Landw. Genossenschaft Weiach; Kaiserstuhlerstrasse 44, Baujahr 1957) zu nennen.

Innerhalb des Perimeters der Boesch'schen Flurnamenkarte 1958 (vgl. Ausschnitt oben) liegen somit die folgenden heutigen Gebäude und gehören damit zum Bedmen:

  • Dammweg 1, 4, 6, 8, 10 und 12, sowie 14 zur Hälfte (Baujahr 2017 m. Ausn. v. Nr. 1), 
  • Grubenweg 1, 3 (Baujahr 1979), 7 und 9.
  • Kaiserstuhlerstrasse 10 (heutige Migrol-Tankstelle mit Tina's Café, Baujahr 1957), 15 (ehem. Rest. Wiesental, Baujahr 1819), 19 (Baujahr 1952), 29a+b (Baujahr 1885) und 35 (Baujahr 1931).
  • Haslistrasse 2 (Baujahr 1911), 3, 5, 7, 9, 11, 13, 15 und 17 (alle Baujahr 1989)
  • Rhihofweg 2 (Transformatorenstation; Baujahr 2015)
Alle Baujahrangaben stammen von der Gebäudeversicherung des Kantons Zürich (Karte Aktueller Gebäudebestand nach Baujahr auf dem GIS Kt ZH). Sie sind, was die älteren Bauten betrifft, leider mangels Quellennachweis von nicht verifizierbarer Qualität.

Quellen
  • Vogel, F.: Ortslexikon des Kantons Zürich oder alphabetische Aufzählung aller Ortschaften, Höfe und einzelnen Wohnungen des Kantons, die besondere Namen tragen, mit Angabe der bürgerlichen und kirchlichen Abtheilungen, in welche sie gehören, u.a.m.  Zürich 1835 – S. 22.

  • Vogel, F.: Neues Ortslexikon des Kantons Zürich oder alphabetisches Verzeichniß aller Ortschaften, Höfe und einzelnen Wohnhäuser, die besondere Namen führen, mit Angabe der Gemeinde, zu welcher sie gehören, ihrer Lage u.s.f. und verschiedenen statistischen Notizen. Zweite, verbesserte und vermehrte Ausgabe. Zürich 1841 – S. 30.

  • Topographische Karte des Kantons Zürich (Wild-Karte). Blatt IX: Weiach, Mai 1859 (Signatur: StAZH PLAN A 4.9).

  • Pfister, A.: Flurnamenliste; erstellt zwischen 1936 und 1942; Teil des sog. Ortsgeschichtlichen Ordners im Archiv des Ortsmuseums Weiach (noch ohne Signatur).

  • Sammlung der Orts- und Flurnamen des Kantons Zürich, 1943-2000 (Signatur: StAZH O 471). Datenerfassung für Weiach durch Prof. Bruno Boesch mit dem Gewährsmann Alb. Meierhofer im Jahre 1958.

  • Eintrag Bedmen. In: ortsnamen.ch. Das Portal der schweizerischen Ortsnamenforschung (Screenshot auf dem Stand vom 24. Februar 2019).

Samstag, 11. Juni 2022

Karussellbesitzer in Weiach verhaftet. Ein Sittlichkeitsverbrecher?

In den Roaring Twenties war der Kanton Zürich noch in mancher Hinsicht ein eigenständigeres Staatsgebilde als heute. Da gab es zum Beispiel noch ein kantonales Strafrecht. Und der Kanton konnte einen Kantonsverweis aussprechen (was heute nicht mehr möglich ist). Der traf Personen, die auf Kantonsgebiet straffällig geworden waren (vgl. WeiachBlog Nr. 1627), aber auch abgeschobene Sozialfälle (vgl. WeiachBlog Nr. 1628). 

Damals gab es auch noch Zeitungen, die drei (!) Ausgaben pro Tag produzierten, darunter die NZZ. Wenn wir in einer dieser Ausgaben blättern, die in drei Tagen ihren 100sten Geburtstag feiern können, dann finden wir in der Rubrik Unglücksfälle und Verbrechen auch «Kantonalzürcherische Polizeinachrichten vom 10. Juni.» Also von gestern vor 100 Jahren:

«Verhaftet wurden: In Oerlikon ein Buchbinder aus dem Kanton Uri, der aus dem zürcherischen Kantonsgebiet ausgewiesen ist; am Zürichberg wegen öffentlicher Vornahme unsittlicher Handlungen ein Färber aus dem Kanton St. Gallen; in Zürich eine ältere Spetterin aus dem Luzerner Seetal wegen Diebstahls eines Portemonnaies mit wertvollem Inhalt; ein Gärtner aus dem Unterlande wegen Diebstahls von Kleidern sowie wegen eines Bargelddiebstahls; in Weiach ein Karusselbesitzer aus dem Thurgau wegen Sittlichkeitsverbrechens.»

Immerhin wird hier schon so etwas wie eine Unschuldsvermutung gewahrt. Die Namen werden nicht genannt, was auch richtig ist, denn verhaftet heisst noch nicht verurteilt. Das ist nicht Sache der Polizei, sondern obliegt den Gerichten. 

Und so ist auch der in Weiach – wohl vom hier zwischen 1919 und 1925 stationierten Polizeisoldaten Friedrich Keller – verhaftete mutmassliche Sittenstrolch aus dem Thurgau nur mit seinem Beruf verewigt. 

Hätten Sie übrigens gewusst, was eine Spetterin ist? Diesen Begriff hatte die 1940 geborene Mutter des hier Schreibenden noch im aktiven Wortschatz. Sie spettete auch als Primarlehrerin ab und zu – und blieb dabei ihrer Profession treu. Die Erklärung findet man im Schweizerdeutschen Wörterbuch, dem sogenannten Idiotikon (Bd. 10, Sp. 600):

Spetten bedeutet ursprünglich u.a. «fremde Pferde vorspannen oder Vorspann nehmen» und in einem davon abgeleiteten Sinne: Jemandem «helfen, Unterstützung, Vorschub leisten». Eine Spetterin ist also eine (temporär eingestellte) weibliche Aushilfskraft, die sonst nicht zur Belegschaft gehört.

Quelle

Sonntag, 5. Juni 2022

Zürcher Regierung verbietet Besuch des Zurzacher Pfingstmarkts

Der Ausbruch der Pest in Marseille im Jahr 1720 hat die Regenten von Limmat-Athen nachhaltig verschreckt. Innert zwei Jahren nach dem ersten Mandat erliessen sie gleich mehrere weitere Verordnungen, die die Einfuhr von Waren bzw. Einreise von Personen aus den von der Seuche betroffenen Regionen verhindern sollten (vgl. die Liste am Schluss des Artikels). 

Grad ganz so extrem drauf wie in Süddeutschland waren sie zwar nicht (dort gab es einen expliziten Schiessbefehl, sollte jemand eine Sperre umgehen, vgl. WeiachBlog Nr. 1652). Auch das sogenannte Erlufftungshaus bei Weyach, eine militärisch bewachte Baracke zum Lüften von Handelswaren, hatte man bereits 1721 nach nur wenigen Monaten Betrieb wieder abgebrochen (vgl. WeiachBlog Nr. 1618).

Menschen- und Warenansammlungen sind gefährlich

Aber die Public Health-Experten der damaligen Zeit wurden nicht müde, mahnten zur Vorsicht und so kam es am 13. Mai 1722 zu dem nachstehend im Volltext abgedruckten gemeinsamen Erlass von Regierung und Parlament: einem kurzfristigen Besuchsverbot für die Zurzacher Messe, konkret: den Pfingstmarkt vom 1. Juni 1722:

Das kalligraphische Feuerwerk für einen Tag (den 1. Juni 1722) hier in transkribierter Form: 

«Wir Burgermeister / Klein und Groß Räthe / so man nennet die zwey Hundert der Stadt Zürich ; Entbieten allen und jeden Unseren Angehörigen zu Stadt und Land Unseren gnädigen wolgeneigten Willen und dabey zuvernemmen : Demnach die in Franckreich vor geraumer Zeit eingeschlichene Pestilenzialische Seuche / nach Gottes heiliger und weiser Regierung / bis anhero noch immer anhaltet / und deßhalber alle sorgfältige Vorsorgen dagegen anzuwenden sind / daß Wir auß Lands-Väterlicher Sorgfalt / für die allgemeine Wolfahrt Unserer Stadt und Lands / bey solch- der Sachen Bewandtnuß / genöthiget worden / Unseren Angehörigen zu Stadt und Land die Besuchung des auf den Ersten instehenden Brachmonat angesehenen Pfingst-Zurzacher Marckts gäntzlichen zuverbieten / nnd [sic!] gelanget daher Unser ernstliche Befehl / Will und Meynung hiemit an dieselbe / disen besagten Marckt / bey Unserer hohen Straff und Ungnad / nicht zubesuchen ; Wornach sich dann Jedermänniglich zu richten und vor Straff und Ungnad zuseyn ernstlich erinneret wird.

Geben den Dreyzehenden Tag Meyen / nach der Gnadenreichen Geburt Unsers einigen Erlösers Jesu Christi gezehlet / Eintausent / Sibenhundert / Zwanzig und Zwey Jahr.

Canzley der Stadt Zürich.»

Der Weiacher Pfarrer Hans Rudolf Wolf, noch im Vorjahr Verwalter des Erlufftungshauses, musste auch diesen Erlass von seiner Kanzel aus verkünden, wie jedes Mandat, das ihm aus Zürich zugestellt wurde.

Einzelmassnahme passt nicht ins Bild

Eine solche Massnahme ist wirklich bemerkenswert, denn bislang (soweit das für den hier Schreibenden erkennbar ist) gab es das in diesem Pestzug nicht, dass Zürcher Kaufleuten und anderen Untertanen im Gebiet des Stadtstaates explizit und unter Androhung von Strafe und des Fallens in Ungnade verboten wurde, an einem bestimmten Tag nach Zurzach zu fahren, um dort Waren kaufen und verkaufen zu können.

Es muss also schon gute Gründe gegeben haben, wenn im merkantil geprägten Zürich Mehrheiten für ein solches Totalverbot zu finden waren. Und das auch noch so kurzfristig vor dem Markttermin, für den etliche Zürcher Ratsherren mit Sicherheit bereits Dispositionen getätigt, also finanzielle Einbussen zu verkraften hatten.

Quelle

  • Mandat der Stadt Zürich betreffend Besuchsverbot des Zurzacher Pfingstmarkts wegen der Pest in Marseille, 1722. Zur Transkription verwendet: StAZH III AAb 1.9, Nr. 7; weitere Exemplare: StAZH III AAb 2.1, Nr. 67 sowie ZBZ M&P 3:5 (Bildquelle).

Frühere Artikel zum Thema Marsilianische Pest
  • Mit Mörsern gegen die Pest. Das «Erlufftungshaus» von 1720/21 (Teil 1). Weiacher Geschichte(n) 9. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, August 2000 – S. 9.
  • Europäisches Handelshemmnis und lokale Einnahmequelle. Das «Erlufftungshaus» von 1720/21 (Teil 2). Weiacher Geschichte(n) 10. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, September 2000 – S. 13-14.
  • Die Pest aus Marseille. WeiachBlog Nr. 359 v. 14. Januar 2007.
  • COVID-19 und Marsilianische Pest. Ein kleiner Rechtsvergleich. WeiachBlog Nr. 1510 v. 18. Mai 2020.
  • Vom Leben mit dem zweiten Pest-Mandat, d.d. 9. September 1720. WeiachBlog Nr. 1599 v. 9. Oktober 2020. 
  • Vor 300 Jahren: Zürich sperrt Handels- und Reiseverkehr mit Genf. WeiachBlog Nr. 1606 v. 31. Oktober 2020  
  • Die Weiacher Quarantäne-Baracke von 1720/21. WeiachBlog Nr. 1618 v. 15. Januar 2021.
  • Eindringlinge werden «so gleich auf der Stelle tod geschossen». WeiachBlog Nr. 1652 v. 14. Mai 2021.
  • Ärger über absonderliche Quarantänevorschriften. WeiachBlog Nr. 1660 v. 28. Mai 2021.
  • Grenzkontrollen und sanitätspolizeiliche Massnahmen. WeiachBlog Nr. 1761 v. 26. Oktober 2021.
[Veröffentlicht am 21. Juni 2022 um 09:20 MESZ]