Montag, 11. März 2024

Unschweizerischer Zeitraffer

Im vorangehenden WeiachBlog-Artikel (Nr. 2049) war die Rede von einem ominösen «Bohns», das sich im helvetischen Distrikt Bülach befinden muss. Also irgendwo zwischen Lägern, Rhein und der Hügelkette mit Wagenbreche und Eschenmoser, allenfalls gar im Rafzerfeld.

Pfr. Lutz hat sich diesen Namen nicht aus den Fingern gesogen. Auch in einer Publikation des bis heute bestehenden Verlags Orell Füssli steht das genau so drin. Dieses Dokument, das für die Nachwelt so etwas wie ein Reader über die ersten 30 Tage dieser Einheitsrepublik von französischen Gnaden ist, erhebt den Anspruch, Originaldokumente direkt aus den Verhandlungen der gesetzgebenden Versammlung der helvetischen Republik in Aarau abzudrucken:


Die provisorische Distriktseinteilung (noch mit Stein am Rhein)

Entweder ist der Fehler also in Aarau selber entstanden, oder der Setzer in Zürich hat sich geirrt. «Bohns» könnte durchaus ein schrecklich verschriebenes «Bachs» sein. Dieses in der Alten Eidgenossenschaft zwischen der Obervogtei Neuamt (Höfe im Thal, d.h. Thalmühle & Rüebisberg) und der Landvogtei Regensberg (eigentliches Dorf Bachs) aufgeteilte Gemeindegebiet gehörte eindeutig zum Distrikt Bülach:

«N°. XXI. Commissional-Vorschlag einer Distrikts-Eintheilung des Kantons Zürich, so wie solcher unterm 2. May von dem großen Rath gutgeheißen, und an den Senat gesendet wurde.

Der große Rath schlägt dem Senat nachfolgende provisorische Eintheilung des Kantons Zürich in Distrikte vor:»

I. Distrikt Benken (mit den heute schaffhausischen Gemeinden Stein am Rhein und Ramsen, aber schon ohne Dörflingen!) – 11000 Menschen

II. Distrikt Andelfingen (Gebiet zwischen Thur und Töss) – 11600 Menschen

III. Distrikt Winterthur (samt Gebiet östlich bis Elgg) – 15600 Menschen

IV. Distrikt Fehraltorf – 14700 Menschen

V. Distrikt Bassersdorf (zwischen Töss und Glatt bis an Eschenmoser) – 12500 Menschen 

«VI. Distrikt Bülach, enthält:

Eglisau, Weil, Rafz, Bohns, Glattfelden, Weyach, Stadel, Bülach, Niederwenigen, Schöflistorf, Steinmaur. Enthält den ganzen Landesbezirk ausserhalb dem Rhein bey Eglisau, mit der Gegend westlich dem Eschenmooser-Hügel, bis an die Lägeren und die Grenze von Baden und den Rhein; enthält circa 10900 Menschen.» 

Mit dieser Formulierung wird schon klarer als bei Lutz, dass auch das Rafzerfeld ennet dem Rhein zum Distrikt Bülach gehört.

VII. Distrikt Regenstorf  (zwischen Lägern, Limmat, Glatt und Geissberg) – 11300 Menschen

VIII. Distrikt Zürich (heutige Stadt Zürich ohne Seebach, Schwamendingen und Wipkingen) – 17500 Menschen

IX. Distrikt Mettmenstätten (Säuliamt) – 14700 Menschen

X. Distrikt Horgen (linkes Zürichseeufer bis zum Albis) – 12000 Einwohner

XI. Distrikt Meilen (heutige Goldküste) – 16300 Einwohner

XII. Distrikt Grüningen – 10100 Menschen

XIII. Distrikt Uster (mit Wetzikon, Fällanden, Schwerzenbach und Greifensee) – 10200 Menschen

XIV. Distrikt Wald – 11300 Einwohner

«Summa aller Einwohner des Kantons 179700 Menschen.» 

(Fundstelle: Tagebuch der helvetischen Republik, S. 208-213)

Man sieht, dass alle Distrikte mindestens 10'000 Einwohner haben, nur drei Distrikte (die mit den Städten Zürich und Winterthur, sowie die Goldküste) weisen mehr als 15000 Einwohner aus.

Die Gleichheit auch im Parlament abbilden

Warum diese Art der Austarierung wichtig und auch genau so gewollt war, zeigt sich an einem Erlass, der nur einen Tag zuvor vom Grossen Rat verabschiedet worden war. 

Er behandelt die Zwangsfusion der Gebiete in der Ostschweiz (ohne Thurgau und Graubünden), der Zentralschweiz (ohne Luzern) sowie des Tessins. 

Was daran besonders dreist ist? Diese Gebiete hatten sich noch gar nicht der gerade erst gegründeten Einheitsrepublik angeschlossen, wurden aber von den neuen Herren massiv unter Druck gesetzt, dies von sich aus zu tun. Konkret wurden sie mit Wirtschaftssanktionen belegt (Einfuhrsperre für Getreide aus Süddeutschland, von dem besonders die Innerschweiz abhängig war) und mit der Drohung eingeschüchtert, französische Truppen würden einmarschieren. 

Die gesetzgebende Versammlung selber wurde übrigens von französischen Truppen geschützt, die rund um Aarau mit Infanterie, Kavallerie und Artillerie zugegen waren, um jede Störung im Keim zu ersticken:

«N° XVIII. Commissional-Vorschlag einer neuen Eintheilung aller noch nicht vereinigten Kantone in Viere, so wie solcher unterm 1. May von dem großen Rath gutgeheißen, und an den Senat gesendet wurde. [...]

Der große Rath hat in Betracht gezogen, daß die Repräsentantschaft des ganzen helvetischen Volks, zwey zum größten Nachtheil des gemeinen Vaterlandes gereichende Uebel enthalte:

Erstens, weilen solche in Rücksicht der Volksmenge allzu zahlreich sey; und zweytens, daß durch die ausserordentlich auffallende ungleiche Austheilung derselben nothwendig folgen müßte, daß einerseits der Nationalschatz die Summen unmöglich würde aufbringen können, welche die Unterhaltung allzu zahlreicher Deputirten zu den gesetzgebenden Räthen und die Glieder der innern Behörden von 23 Kantonen kosten würden; anderseits aber annoch zu bedenken sey, daß die so unverhältnißmäßig vertheilten Repräsentantschaften die üble Wirkung nach sich ziehen würden, daß die Deputirten der kleinen Volkszahl gar leicht das Stimmenmehr über die größere Volksmenge der freyen Männer Helvetiens behaupten könnten.

Da nun diese politische, wider die Grundsätze der Gleichheit streitende Unordnung insonderheit bey den kleinen Kantonen auffallend ist, die bey einer nicht zahlreichen Bevölkerung größtentheils diejenigen rauhen Gegenden bewohnen, wo die undankbare Erde keinen Beytrag zu dem gemeinen Gut gewähren kann, also daß die wider alles Verhältniß streitende Repräsentantschaften dieser Orte aus den Beyträgen der andern Kantone müßen besoldet werden; so führen diese Betrachtungen zur Ueberzeugung, daß kein anderes Mittel sey dem Uebel vorzubeugen, als die Zahl der Kantone zu vermindern, und das ganze Vaterland in so viel möglich gleiche Volkszahl abzutheilen. Denn wenn man auch dem Gedanken Platz einräumen wollte, daß die Anzahl der Deputirten nach der Volksmenge jedes Orts zu bestimmen und dadurch eine Gleichheit zu erhalten wäre, so müssen dem ohngeachtet in jedem Kanton der Statthalter, der Unterstatthalter, die Verwaltungskammer, so wie die übrigen rechtlichen Behörden ernannt, und auf gemeine Kosten bezahlt werden.

In Erwägung nun, daß, wenn auch im Verfolge, und nach reifer Ueberlegung, eine gleichmässigere Eintheilung von Helvetien, und eine Reduktion in der Zahl der bereits vereinten Kantone vorgenommen werden könnte, so kann man doch nicht widersprechen, daß dermalen der wahre und einzige Zeitpunkt sey, mit dieser Eintheilung bey den kleinen Kantonen, welche größtentheils die Constitution noch nicht angenommen, also mit dem Ganzen noch nicht vereiniget sind, den Anfang zu machen, und diese auf Billigkeit und Gleichheit der bürgerlichen Rechte sich gründende Einrichtung bey ihnen einzuführen, insonderheit da solches dermalen gewiß leichter geschehen kann, als wenn man abwarten wollte, bis sich solche mit uns vereinigt und ihre Deputirten gewählt hätten.

Man ist auch um so mehr berechtigt dieses vorzunehmen, weilen diese Abänderungen gar nicht gegen die Constitution streiten, da solche, im 18 Art. des II. Titels, die Anzahl der 22. Kantonen, die dermalen bis zu 23. angewachsen, blos provisorisch oder als einstweilen benamset. Dagegen im 16. Art. gleichen Titels deutlich stehet: "Die Gränzen der Kantone können verändert, oder das Gesetz anderst eingerichtet werden", das will sagen, durch den Willen oder durch die Beschlüsse der gesetzgebenden Räthe. Denn, wenn man der Constitution eine andere Auslegung geben, oder einen Sinn anzwingen will, den sie nie haben kann, so hätte es das Ansehen, als ob man das Vaterland unter der Last einer übertriebenen Repräsentation wollte schmachten lassen, um, sowohl durch die ungleiche Vertheilung als die unnöthige Menge der rechtlichen und gesetzgebenden Behörden, den unvermeidlichen Untergang der Republik zu befördern.» 

In Erwägung des oben Stehenden hat die Versammlung dann die folgenden vier Fusionskantone geschaffen: 

«Kanton der Waldstätte. (Hauptort: Schwyz). Wird enthalten: Die Kantone Uri, Schwyz, Unterwalden, ob und nid dem Kern-Wald, Zug, Engelberg und Gersau. [...]

Kanton von der Linth. (Hauptort Glaris). Enthält den Kanton Glaris, das Sargans, Gambs, Sax, den obern Theil von Toggenburg, das Gaster, die March, Rapperschwyl, mit den Höfen. [...]

Kanton vom Sentis. (Hauptort St. Gallen). Enthält den Kanton Appenzell, ausser und inner Rhoden, das Rheinthal bis zum Schloß Blatten, die Stadt St. Gallen, die alte Landschaft des ehemaligen Abts von St. Gallen, das Toggenburg bis zum Hummelwald und Hemberg. [...]

Kanton vom Tessin. (Hauptort Bellenz). Er enthält das Livinerthal [Leventina], das Val Maggia, die vormaligen Landvogteyen Locarno, Lugano, Mendrisio, Bellinzona, Riviera und das Thal Blegno. [...]»  

(Fundstelle: Tagebuch der helvetischen Republik, S. 198-203)

Kantonseinteilung. Ein Diskussionsthema seit über 225 Jahren

Die Sprache mag altertümlich wirken, die in den obigen Zeilen ausgebreiteten Themen aber sind der heutigen Schweiz fast unverändert als Diskussionsthemen erhalten geblieben. Es geht um die Frage, wie man ein Parlament so aufstellt, dass alle Bürger gleichberechtigt vertreten sind, ohne dabei eine bis ins Unbezahlbare aufgeblasene Volkskammer alimentieren zu müssen. Selbst Fragen der Subventionierung des Berggebiets werden aufgeworfen. Diese ganze Suppe wurde in Aarau abgeschmeckt mit dem Pfeffer der Gunst der Stunde. Man wollte Tatsachen schaffen. Gegen alle Widerstände und über die Köpfe der Bürger hinweg.

Dass eine solche in wenigen Tagen erarbeitete, zwar vernünftigen Argumenten folgende, aus Sicht der Betroffenen jedoch übers Knie gebrochene Regelung, nicht funktionieren konnte, wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, was die Alte Eidgenossenschaft bis wenige Wochen zuvor noch gewesen war: ein völlig heterogener Staatenbund mit Untertanengebieten, der sich über Jahrhunderte hinweg gestritten, bekriegt, wieder zusammengerauft und auf diese Weise mit- und gegeneinander in ein diffiziles Gleichgewicht gebracht hatte. So ein Parforce-Ritt konnte nicht gut gehen, wie sich dann an der turbulenten kurzen Geschichte der Einheitsrepublik gezeigt hat. Bereits 1803 musste Napoléon Bonaparte die Notbremse ziehen und mit der Mediationsakte ein paar Gänge zurückschalten, um die in Bürgerkrieg abdriftende Schwesterrepublik wieder halbwegs funktionsfähig (und damit für Frankreich nutzbar) zu machen.

Immerhin haben die Begründer des Bundesstaates dann ein halbes Jahrhundert und einen kurzen Bürgerkrieg später aus den Vereinigten Staaten von Amerika das in den Grundzügen bis heute praktizierte Zweikammersystem abgekupfert: mit einem Ständerat als einer Art Tagsatzung, wo jeder Stand gleich viele Stimmen hat, kombiniert mit einem Nationalrat, wo auch die Anzahl Einwohner einen Einfluss auf die Zahl der Sitze im Rat hat.

Das übermässige Stimmengewicht eines Innerrhödlers verglichen mit dem eines Zürchers ist allerdings bis heute ein Stein des Anstosses, der mit schöner Regelmässigkeit zu Überlegungen führt, wie man die Schweiz sinnvoller gliedern könnte, zum Beispiel wie in Frankreich mittels Grossregionen bestehend aus mehreren Departementen. 

Tabula rasa-Ansätze, wie sie zu Anfang der Helvetischen Republik verfolgt und stolz propagiert wurden, mit dem Hinweis, man habe innert weniger Wochen einen Fortschritt um 50 Jahre erzielt (vgl. den Anhang ab S. 500), sind dabei eindeutig chancenlos. Denn wie lange hat es dann ab Ende April 1798 noch gedauert bis zur Gründung des Bundesstaats? Richtig: ziemlich genau 50 Jahre. Die demokratische Volksseele verträgt keine Abkürzungen.

Quelle

  • Tagebuch der helvetischen Republik. Erster Band. Vom 12. April bis 12. May 1798. Zürich, bey Orell, Füßli und Compagnie. 1798.  [507 (!) Seiten; Vorrede datiert «Zürich, am 8. August 1798»]. – I. Verhandlungen der gesetzgebenden Versammlung der helvetischen Republik in Aarau. Vom 12. April bis 12. May 1798. S. 1-286; Beylagen ab S. 153. – II. Tagebuch der Begebenheiten. Vom 9. April bis 12. May 1798. S. 287-499; Beylagen ab S. 386. – Anhang. Proklamation des Vollziehungs-Direktoriums der Einen und untheilbaren helvetischen Republik, worinn dasselbe allen Bürgern Helvetiens verkündet, daß es nunmehr in vollkommene Wirksamkeit gesetzt sey. S. 500.   

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