Haben Sie schon einmal einen rosaroten Elefanten übersehen? Einen, den jedes Kind sofort sehen würde? Nun, das ist dem Schreibenden mit der Mittagsglocke so ergangen. Es kommt nämlich sehr darauf an, mit welcher Fragestellung man an eine Sache herangeht. Denn: Alles, was nicht zur Frage passt, wird sozusagen automatisch herausgefiltert.
Der Schlüssel heisst «Fokussierung». Darauf wurde man in seiner schulischen Laufbahn schliesslich trainiert. Die Kehrseite der Medaille: für nicht in der Fragestellung Enthaltenes hat man einen blinden Fleck. Und es ist dann nicht zwingend böser Wille, wenn jemand behauptet, da gebe es keinen Elefanten. Höchstens eine naive Art von Dummheit. Oder Unwissen darüber, wie das menschliche Wahrnehmungsvermögen halt nun einmal funktioniert. Wer sich in diesem Bereiche selber testen will, dem seien die Videos von Daniel J. Simons in den Literaturangaben unten empfohlen.
Erst beim dritten Mal erkannt
Meine Fragestellung war im Sommer 2015: «Was steht auf den Weiacher Glocken wirklich drauf?» (WeiachBlog Nr. 1217), und zwar deshalb, weil es da in der gedruckten Literatur unterschiedliche Fassungen gibt. Der Elefant in diesem Fall ist ein nicht einmal so kleines Kruzifix, das mittig oberhalb des Textes auf der Mittagsglocke prangt. Eigentlich unübersehbar.
Ein zweites Mal ist mir dieser Elefant im September 2020 sozusagen durchs Blickfeld marschiert. Ohne als solcher erkannt zu werden. In dem Salomon Vögelin zugeschriebenen «Gloken-Buch» ist nämlich zu lesen (vgl. Abbildung in WeiachBlog Nr. 1585): «Auf der einen Seite ein Crucifix über der Inschrift "Wo immer wird mein Ton erschallen [...]» (ZBZ Ms. J 432, S. 296). Diesen Satz habe ich abgeschrieben, ohne dass mir etwas Besonderes aufgefallen wäre.
Erst als ich im Juni 2021 über e-newspaperarchives.ch auf einen Beitrag aus den Neuen Zürcher Nachrichten (NZN) zur Karwoche 1952 gestossen bin, da war der Elefant dann auch in meiner Wahrnehmung unübersehbar vorhanden. Diese ab 1904 erscheinende Tageszeitung (eingestellt am 30. April 1991) galt nämlich als Sprachrohr der katholischen Diaspora im Kanton Zürich. Und es ist gerade dieser spezifisch katholische Blickwinkel, der hier entscheidend ist.
Du sollst Dir vom Gekreuzigten kein Bildnis machen
Im zweiten Teil eines NZN-Artikels mit dem Titel «Alte Passionsglocken in Stadt und Landschaft Zürich» wird unter dem Rubrum «Passionsbilder. Christus am Kreuz» über dieses im reformierten Zürich seltene Motiv berichtet:
«In Fehraltorf waren auf der grössten (bis 1911 verwendeten) Glocke von 1836 neben der Geburt Christi und dem Guten Hirten, der Auferstehung und der Himmelfahrt Christi auch die Kreuzigung (anscheinend als Szene) dargestellt.
Ein Bild des Gekreuzigten war ebenfalls auf der 1. Glocke, der Mittagsglocke, des neuen Geläutes von Weiach aus dem Jahre 1843, gegossen von dem bedeutenden schweizerischen Glockengiesser seiner Zeit, von Jakob Keller in Unterstrass (dessen bis vor wenigen Jahren noch bestehende Giesserei man an den im Freien aufgestellten Glocken an der Schaffhauserstrasse, bei der heutigen Abzweigung Pflugstrasse, erkennen konnte).
Die beiden letztgenannten Darstellungen des Gekreuzigten haben noch spezielles Interesse, da sie die im nachreformatorischen Zürichbiet streng befolgte Vermeidung der bildlichen Darstellung des Gekreuzigten durchbrechen.»
Wieso ausgerechnet bei uns?
Der letzte Abschnitt erklärt nun auch, weshalb ich oben von einem Elefanten, noch dazu einem rosaroten Elefanten schwadroniere. Denn dass dieses selten verwendete Symbol ausgerechnet auf einer Weiacher Glocke zu finden ist, das ist eine Sensation.
Da erheben sich Fragen, wie:
Wer hat das entschieden? Die Kirchenpflege? Der damalige Pfarrer im Alleingang? Was waren die Motive der Entscheidungsträger? Pietistische, ohne Rücksicht auf die zwinglianisch-staatskirchliche Dogmatik im Umgang mit Kruzifixen?
Ist es gar einem Irrtum der Glockengiesserei zu verdanken und das Kruzifix wäre eigentlich nur für Geläute vorgesehen gewesen, die für katholische Kirchgemeinden bestimmt waren?
Und wieso die Vergangenheitsform? Kann es sein, dass man dieses Kruzifix nachträglich von der Glocke sozusagen abgeflext hat?
Nur die letzte Frage ist bis dato beantwortet: Das Kruzifix ist bis heute auf der grossen Glocke präsent.
Das wäre er also, der Gekreuzigte. Nur: daran konnte ich mich nicht erinnern, obwohl ich ja vor Jahren anlässlich des 300-Jahr-Jubiläums eigens in den Glockenstuhl gestiegen bin, um mir die Originale der Glockensprüche ansehen zu können.
Diesmal hat sich alt Gemeindepräsident Gregor Trachsel die Mühe gemacht, für mich in den Dachreiter hochzusteigen. Obige fotografische Aufnahme sei ihm daher herzlich verdankt. Sie führt den Beweis: Das Glockenbuch und die katholische Tageszeitung sagen die Wahrheit: Ecce crucifixum.
Vögelins Glockenbuch als Quelle
Der Autor des Artikels wird nur mit den Initialen «R.H.» identifiziert. Laut der Zürcher Bibliographie ist Rudolf Herzog gemeint, der im selben Jahr 1952 auch Artikel über Passionsglocken im Thurgau veröffentlicht hat.
Autor R.H. hat jedenfalls die Information über das Weiacher Glocken-Kruzifix offensichtlich aus derselben Quelle wie ich: einem der Glockenbücher in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich.
Im Teil I seines Beitrags wird nämlich erwähnt, der Artikel sei u.a. «auf Grund eines handschriftlichen Verzeichnisses, um 1860 von Salomon Vögelin erstellt,» verfasst worden.
Im Dachreiter schwingt die Ökumene mit
Weiach hat 1843 also sozusagen im Geheimen ein Stück Katholizismus im Glockenstuhl fix eingebaut. Wer hätte das gedacht, bei diesem baulich doch sonst so streng zwinglianisch geplanten und konstruierten Kirchenbau? Vielleicht ist es ja eine Erinnerung an die vorreformatorische Friedensglocke, deren Metall in unsere drei heutigen Glocken im wahrsten Sinne des Wortes eingeflossen ist (vgl. WeiachBlog Nr. 1581).
Quellen und Literatur
- Herzog, R.: Alte Passionsglocken in Stadt und Landschaft Zürich. In: Neue Zürcher Nachrichten; Teil I: Nr. 85, 9. April 1952, 3. Blatt, S. 1. -- Teil II: Nr. 86, 10. April 1952, 3. Blatt, S. 1.
- Brüllmann, F.: Thurgauische Geschichtsliteratur 1952. In: Thurgauische Beiträge zur vaterländischen Geschichte, Band 90 (1953) – S. 144.
- Sieber, P.: Bibliographie der Geschichte, Landes- und Volkskunde von Stadt und Kanton Zürich, 1. Juni 1951 bis 31. Mai 1952. In: Zürcher Taschenbuch, Band 73 (1953) – S. 207.
- Simons, Daniel J.: The Monkey Business Illusion (1:41) mit deutschen Untertiteln; Deutschsprachige Adaption mit weitergehenden Fragen: Wahrnehmung und die Implikationen (2:12).
- Brandenberger, U.: Was auf den Weiacher Glocken wirklich draufsteht. WeiachBlog Nr. 1217 v. 22. Juni 2015.
- Brandenberger, U.: Der mittelalterliche Friedenswunsch klingt auch heute mit. WeiachBlog Nr. 1581 v. 16. September 2020.
- Brandenberger, U.: Glockensprüche 1843: So viele Varianten wie Chronisten. WeiachBlog Nr. 1585 v. 22. September 2020.
- Papis, A.: Mobiles Kreuz. Website Reformierte Kirche Sihltal (Adliswil - Langnau am Albis). o.J. [Dieser Beitrag zeigt im Abschnitt «Reformierte Skepsis» auf, dass Luther mit Kruzifixen viel weniger Probleme hatte als Zwingli. Dementsprechend ist die Kreuzsymbolik in lutheranischen Kirchen auch häufiger anzutreffen].
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