Im Mai 1703 zogen Frankreich und Kurbayern im Raum Tuttlingen Truppen zusammen. Es gingen Gerüchte, dass sich dieses Heer auch gegen die Eidgenossenschaft wenden könnte. Entsprechend gross war die Wachsamkeit.
Selbst harmlose Handelsreisende französischer Zunge konnten da bei den Weiachern schon Argwohn wecken. Besonders an einem Tag, wo alle militärdiensttauglichen Männer des Regensberger Quartiers zur Hauptmusterung aufgeboten und daher ortsabwesend waren.
Ein junger arbeitselliger Knab
Zu diesem «Blinden Lärmen» (falschen Alarm) von 1703 hat der Artikel Weiacher Geschichte(n) Nr. 56 den vollen Wortlaut des Einvernahmeprotokolls transkribiert und publiziert. Bei einer dieser Aussagen kommt das früher in breiter Anwendung stehende, heute aber überhaupt nicht mehr gebräuchliche Adjektiv «arbeitselig» vor:
«Heinrich Meÿer von Weÿach ein junger arbeitselliger Knab berichtet; Er sÿe in rüben gseÿn und haben alle Weiber im Dorf ihme gerüft, auf ein roß aufenzehrt und befohlen zureiten, bis er ein Mann antrefe, zu dem solle er sagen, der Frantzoß seÿe zu Keyßerstuel.» (Cantzley der Stadt Zürich, 1703)
Daraus wurde in einem militärgeschichtlichen Werk eine Passage, laut der sich die Weiacherinnen «alsbald mit Mistgabeln bewaffnet, auf der Strasse gegen Kaiserstuhl postierten, „einen jungen arbeitstelligen“ Knaben auf ein Ross hinaufsetzten und ihm befahlen, in die benachbarten Dörfer Stadel und Steinmaur zu reiten, sowie den Wächter auf der Lägernhochwacht zu benachrichtigen.» (G. J. Peter, 1907)
Was ist damit gemeint? Dass der Knabe ganz verzückt war, arbeiten zu dürfen? Wohl eher nicht. Dass er «anstellig» war (wie man es heute noch ab und zu in ländlichen Gegenden hört), also aufgeweckt und gut einzusetzen, wie das bei Peter anklingt?
Ein verrückt gewordener Obervogt
Den richtigen Hinweis habe ich jüngst in einem Artikel der Historikerin Aline Steinbrecher im Zürcher Taschenbuch 1999 gefunden. Da klagte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Ehefrau des Isaak Keller, seines Amtes enthobenen Obervogts von Hegi (Teil der Landvogtei Kyburg), in einer Eingabe an die Zürcher Regierung, ihr Mann sei «arbeitselig» und «verkehrter Sinnen» (vgl. ZTB 1999, S. 337). Damit kommen wir der Sache schon wesentlich näher.
In der Fussnote 21 schreibt Steinbrecher: «Nach dem Idiotikon kann dieses Adjektiv die Begriffe arm, armselig, geplagt, unglücklich, elend im moralischen wie theologischen Sinne, also verdorben, verkommen, verblendet, wie auch gebrechlich, verkrüppelt, krank oder in geistiger Hinsicht untüchtig bedeuten, idiotikon 1,424f.»
Bei dieser Quelle handelt sich um das wichtigste und umfangreichste Kompendium unserer Muttersprache schlechthin. «Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache (1881 ff.)» lautet die offizielle Kurzzitierung. Und im Gegensatz zu 1999 haben wir heute die Möglichkeit, im Volltext dieses linguistischen Dschungels zu suchen, müssen somit nicht mehr zwingend Sprachwissenschaften studiert haben.
Militärdienstuntauglich, weil Invalider
Der offizielle elektronische Eintrag hilft weiter (und bringt viele historische Belege, die den Sprachgebrauch lebendig vor Augen führen, es lohnt sich also, den nachstehenden Link anzuklicken):
arbe(i)tselig 1,424 [gedruckt 1882]
«1. voll Arbeit, Mühe, äusserer Not und Seelenschmerz (in subj. u. obj. S.), arm, armselig, geplagt, unglücklich
2. elend im moralischen und theologischen S., verdorben, verkommen, verblendet
3. gebrechlich, verkrüppelt, krank, daher arbeitsuntauglich; auch in geistiger Beziehung, untüchtig.»
Im Fall von Heinrich Meyer, der am Tag der militärischen Musterung in Weiach blieb, muss man wohl vom zweiten Wort des dritten Punktes ausgehen. Er scheint nicht geistig behindert gewesen zu sein, zumindest wird dies im Protokoll nicht so zum Ausdruck gebracht.
Seine Schilderung, die Weiacher Frauen hätten ihn auf ein Pferd «aufenzehrt», also mit vereinten Kräften in den Sattel gehievt, zeigt, dass er dazu selber körperlich nicht in der Lage gewesen sein dürfte. Nach heutigen Kriterien würde man ihn also wohl mit hoher Sicherheit als «militärdienstuntauglich» einstufen.
Aber die Frauen trauten ihm dann doch zu, dass er sich im Sattel halten und bei einem Dorfwächter oder Angehörigen von einer der Hochwacht-Besatzungen Meldung machen könne. Als körperlich Eingeschränkter schien er ihnen als Meldereiter nützlicher zu sein, als – wie sie selber – mit einer Mistgabel auf der Strasse stehend.
Quelle und Literatur
- Cantzley der Stadt Zürich: „Aussag etlicher persohnen wegen des jüngsthin zu Weyach und Kaiserstuhl entstandenen blinden lermens [...].“ Einvernahmeprotokoll. Original vom 22.5.1703. Signatur: StAZH A 29.4 [Kriegssachen und Reissachen, Allgemeines, 1691-1710].
- Peter, G. J.: Ein Beitrag zur Geschichte des zürcherischen Wehrwesens im XVII. Jahrhundert. Diss. Univ. Zürich. Zürich, 1907 – S. 63/64.
- Steinbrecher, A.: Schicksal eines psychisch Kranken im 17. Jahrhundert. Ein Zürcher Obervogt verliert den Verstand. In: Zürcher Taschenbuch 1999 – S. 331-361.
- Brandenberger, U.: «Blinder Lärmen». Wie die Weiacherinnen 1703 gegen die Franzosen kämpfen wollten. Weiacher Geschichte(n) Nr. 56. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, Juli 2004 – S. 11-16 (hier: S. 151 der Gesamtausgabe).
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