Sonntag, 29. August 2021

Der Mühlebrunnen von 1790

Im Beitrag von gestern Samstag (WeiachBlog Nr. 1732) wurde ein Bergwerksprojekt der Gemeinde Weiach besprochen. Aus dem ins Auge gefassten Mergelabbau zwecks Düngergewinnung für die hiesigen Landwirte scheint dann doch nichts von Dauer geworden zu sein. 

Trinkwasser statt Dünger

Ein anderes, im selben Jahr 1790 realisiertes Vorhaben kann man hingegen noch heute jederzeit besuchen und alle Vorbeikommenden haben etwas davon. Die Rede ist vom Mühlebrunnen am südöstlich verlaufenden Hauptast des heutigen Müliwegs (s. GIS Kt ZH). Nach früherer Terminologie (als es noch keine amtlich festgelegten Strassennamen gab) hätte man diesen Standort «zuoberst im Oberdorf» genannt.

Abbildung: ZBZ G-Ch Weiach 1952; leicht veränderter Ausschnitt in: Zollinger 1972, S. 33

In der ersten von Walter Zollinger verfassten Jahreschronik (vgl. für den Begriff WeiachBlog Nr. 1473) schreibt der Chronist im Sommer 1954:

«Im Dorf herum stehen ein Dutzend währschafte Dorfbrunnen, aus denen Tag und Nacht ununterbrochen das frische Quellwasser sprudelt. Jeder ist mit einem ansehnlichen Brunnentrog ausgestattet; denn Morgen für Morgen und Abend für Abend führen die Bauern ihr Vieh daran zur Tränke.»

Spätestens mit dem Aufkommen der in den Ställen installierten Selbsttränkebecken hat sich diese Sitte nach und nach überlebt und ist jetzt völlig verschwunden. Heute haben diese Brunnen eine andere Funktion: die der Notwasserversorgung (vgl. WeiachBlog Nr. 1300).

Grossvater und Enkel verwechselt

Zollinger stellt in der Folge die zwei obersten Brunnen im Oberdorf vor:

«Der älteste, der sog. "Mühlebrunnen", stammt aus dem Jahre 1790 und soll vom letzten Untervogt Hans Jakob Bersinger erstellt worden sein, der in der 1752 ebenfalls von ihm erbauten Mühle hauste. Der Brunnen trägt auf der nordöstlichen Trogseite eingemeisselt folgende Inschrift: GM 17 HBSW 90 W».

Hier irrt Zollinger, denn derjenige Bersinger, der Mitte des 18. Jahrhunderts die 1748 abgebrannte Mühle wiederaufgebaut hat (vgl. WeiachBlog Nr. 203), ist bereits 1761 gestorben (vgl. WeiachBlog Nr. 990).

Gemeint ist dessen Enkel, der unter dem Namen «Jacob Persinger» in den Akten auftaucht (u.a. so in der fürstbischöflichen Urkunde, die ihm 1790 die Pacht der Weiacher Ziegelhütte übertragen hat, vgl. RQNA Nr. 200) und der nach dem Ende des Ancien Régime in der Helvetik Distriktsrichter wurde.

Wer hat den Brunnen finanziert?

Eine offene Frage ist, ob der Mühlebrunnen tatsächlich durch diesen letzten Untervogt erbaut wurde. Die Errichtung fällt ganz eindeutig in seine Amtszeit. Ob er sie auch finanziert oder mitfinanziert hat, ist hingegen noch nicht geklärt.

Dass Untervogt Jakob Bersinger die nötige Finanzkraft dazu gehabt hat, um den Brunnen vollständig aus dem eigenen Sack zu bezahlen, ist kaum zu bestreiten. Man sieht das an der im vorstehenden Abschnitt erwähnten Übernahme der Ziegelhütte, der Ablösung von Zehntenlasten im Jahre 1799, sowie seinem umfangreichen Immobilien- und Landbesitz im Jahre 1811 (vgl. WeiachBlog Nr. 1666).

Einen wichtigen Hinweis geben die auf dem Brunnentrog eingemeisselten Initialen. Lehrer Adolf Pfister (der in seiner Weiacher Zeit (1936-1942) grosse Teile des sog. Ortsgeschichte-Ordner zusammengetragen hat) ist auch als Verfasser eines von sechs Schulheften zur Ortsgeschichte anzusehen, die Walter Zollinger im Ortsmuseum hinterlassen hat (Heft Nr. VI).

Was bedeutet GM 17 HBSVV 90 W ?

Auf Seite 2 dieses Hefts VI schreibt Pfister in vorbildlicher Schönschrift:

Auf einem eingeklebten Zettelchen, das auf der Hinterseite mit dem Text «W.Z. 1939» beschriftet ist, (was mutmasslich «Walter Zollinger» bedeutet), ist in epigraphischer Manier die Inschrift des «Brunnen b. der Mühle» abgebildet (s.oben).

Im Gegensatz zur Jahreschronik 1952 liest man hier «G.M.1.7.H.B.S.V.V.9.0.W». Das «W» in «HBSW» wäre also zu «VV» aufzulösen. Pfister interpretiert dies (hinter dem Zettelchen eingetragen) als: «Gemeinde, Heinr.? Bersinger U'Vogt, Weiach». 

Das Fragezeichen unter «Heinr.» ist berechtigt, denn wenn der amtierende Untervogt gemeint war, dann müsste «H» für «Hans» (oder «Hans Jakob») stehen. Ganz schlüssig ist diese Auflösung jedoch auch dann nicht. Denn normalerweise nimmt man nicht zusätzlich zur Initiale noch einen Silbenanfang aus einem Namen, um ihn in einer Inschrift zu verewigen. Die Frage wäre dann also, was «S W» bedeutet hat. Die Initialen des Vornamens und Familiennamens seiner Ehefrau? Affaire à suivre.

Quellen 

  • OM Weiach, Ortsgeschichtliche Sammlung. Bestand Schulhefte: Heft VI Pfister  S. 2. [Handschrift; Weiach, zw. 1936 u. 1942]
  • Zollinger, W. (1954): Chronik des Jahres 1952. Abgeschlossen Sommer 1954. Typoskript. Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, Signatur: G-Ch Weiach 1952.
  • Zollinger, W. (1972): Weiach 1271-1971. Aus der Vergangenheit des Dorfes Weiach. Druckerei Akeret Dielsdorf 1972  S. 33.

Nachtrag vom 30. August 2021, 23:07

Aus welcher Art von Stein Brunnentrog und Brunnenstud gehauen wurden, ist nur summarisch bekannt.

Professor Francis de Quervain hat auf einer seiner Erfassungskarten «Brunnen aus Muschelkalkstein der Marinen Molasse» notiert.

Ob er einen bestimmten Brunnen meint oder diverse Brunnen, die er auf einem Dorfrundgang gesehen hat, als Muschelkalkstein anspricht, ist nicht klar. Die Fachgruppe Georessourcen der swisstopo (Erstellerin der über map.admin.ch aufrufbaren Datenbank) nimmt jedenfalls letzteres an (vgl. Link)

Quelle: de Quervain, F.: Gesteinsarten an historischen Bau- und Bildwerken der Schweiz. Aufzeichnungen 1954-1983. Hrsg. Institut für Denkmalpflege Eidg. Techn. Hochschule Zürich. Zürich 1984, Bd. 6, S. 232.

Samstag, 28. August 2021

Als die Gemeinde Weiach 1790 ein Bergwerk eröffnete

Viel ist nicht erhalten geblieben von all den Urkunden und Akten, die es einst auch im Archiv der heutigen politischen Gemeinde Weiach gegeben haben muss. Das alte Archiv ist wohl beim Brand des Gemeindehauses während des Zweiten Koalitionskrieges vernichtet worden. 

Einige Akten aus der Zeit vor 1800 waren aber zu diesem Zeitpunkt nicht am Ort des Brandes und sind uns bis heute erhalten geblieben. So auch die unter der Signatur PGA Weiach III A 1 aufbewahrten Jahresabrechnungen. Diese «Gemeinderechnungen» umfassen die Jahre 1755–1798 (mit Lücken).

Darin sind gemäss alt Staatsarchivar Otto Sigg u.a. verzeichnet:

  • Einnahmen aus dem Verkauf von Holz, Rinden, Eicheln, Esparsette, Birnen, Getreide (ab Gemeindegütern) sowie von Flur- und Forstbussen;
  • Ausgaben für Besoldungen, Spesen, Wachtdienste, Wasserversorgung/Brunnen, Feuerwehrwesen, Gemeinwerk und Schermauser.

Ausgaben für einen Probeabbau

Die Jahresrechnung von 1790 (s. Bild unten) ist besonders interessant. Denn da wird unter dem Titel «Außgeben wegem Mieth» über ein ganz spezielles Unternehmen rapportiert.


Der damalige Zürcher Staatsarchivar Otto Sigg beschreibt es 2006 in seinem Führer zu den zürcherischen Gemeindearchiven wie folgt (Internet-Links von WeiachBlog):

«Im Jahr 1790 gab die Gemeinde die verhältnismässig hohe Summe von 225 Pfund aus, um im Bergbau eine Mietgrube zu eröffnen. Miet wurde derjenige Mergel genannt, den die Naturforschende Gesellschaft in Zürich zur Verbesserung der Fruchtbarkeit des Bodens empfahl. Wir entnehmen dem Rechnungseintrag, dass die Gemeinde mittels eines «Neppers» (Eisenbohrer) aus dem staatlichen Bauamt an verschiedenen Orten Bodenproben nehmen liess. Man wurde im Wald von Untervogt Bersinger im «grossen Gebirg», neun Schuh unter der Erde fündig. Um die Eignung der gefundenen Mergelerde zu prüfen, wurde ein Bergmann des Kohlenbergwerks Käpfnach eingestellt, der während 100 Arbeitstagen einen Stollen vorwärts trieb und eine zwölf Schuh dicke Mergelschicht nachwies. Er förderte 30 Fuder, und die Dorfgenossen wurden aufgefordert, sich von diesem Mergel zu bedienen und «auf unterschiedliche Güter zu tun, um die Proben zu machen, damit man sich in Zukunft zu richten wisse».»

Wo war unser Mergelbergwerk?

Nicht einmal drei Meter unter der Oberfläche auf Mergel zu stossen, ist keine schlechte Tiefe. Da lohnte sich ein Probeabbau. Wo sich die genannte Stelle im grossen Gebirg befand, ist zum aktuellen Zeitpunkt nicht bekannt. Dafür müsste man sich das Original genauer ansehen, denn vielleicht hat Sigg einen für Ortskundige sofort wegweisenden Flurnamen oder andere sachdienliche Hinweise nicht in seine Zeilen über Weiach im Archivführer übernommen.

Was das Kohlebergwerk Käpfnach betrifft: dieses wurde 1784 im Auftrag des Zürcher Staates an einem bekannten Fundort für Kohle bei Horgen durch den aus dem Badischen stammenden Bergbauspezialisten Johann Sebastian von Clais professionell aufgezogen. Und es ist mit 80 Kilometern Stollenlänge das bisher bedeutendste in der Schweiz. Wenn man schon den Nepper aus dem staatlichen Bauamt hatte, dann lag es nahe, auch den Bergbauspezialisten quasi von dort zu «beziehen».

In Vergessenheit geraten

Aus dem Mergelabbau in Weiach scheint allerdings nichts Grösseres geworden zu sein, trotz der vom Käpfnacher Bergmann festgestellten vier Meter dicken Schicht.

So schreibt Schulpfleger Johannes Baumgartner in der Ortsbeschreibung 1850/51: «Die trefflichen Eigenschaften des Mergels sind zwar nicht unbekannt, doch gräbt man ihn noch viel zu wenig nach und benutzt ihn nur, wo man ihn zufällig findet.»

Angesichts dieser Passage muss man annehmen, dass der gemeindefinanzierte Abbau auf Probe nach sechs Jahrzehnten nicht mehr allgemein bekannt war. Baumgartner wusste davon offensichtlich nichts.

Quellen

  • Baumgartner, J.: Kapitel VIII. Dungstätten und Dünger. In: Hirzel, K. et al.: Ortsbeschreibung Weiach Anno 1850/51. Abschrift des Originals durch Walter Zollinger. Edition: Wiachiana Fontes Bd. 3, Trub 2018-2021.
  • Staatsarchiv des Kantons Zürich (Hrsg.): Archivführer der Zürcher Gemeinden und Kirchgemeinden sowie der städtischen Vororte vor 1798. Zeugnisse zürcherischer Gemeinde-, Verwaltungs- und Rechtskultur im agrarischen und kirchlichen Zeitalter. Bearbeitet von Otto Sigg. Zürich 2006 –  S. 112-113  (Direktlink Weiach.auf zuerich-geschichte.ch; PDF, 22 MB auf Website StAZH)

Freitag, 27. August 2021

Der gestohlene Kupferbrennhafen

Wer Schnaps brennen will, der braucht einen Brennhafen. Sei es nun Obst oder Kartoffeln: die Brennerei bringt eine gewisse Feuergefahr mit sich. Und deshalb wurden diese Einrichtungen in (am besten separat stehenden) Waschhäusern platziert. Wenn es dort brannte, konnte man einfacher löschen und das Risiko eines Dorfbrandes war kleiner.

Solche Kessel hatten nicht nur einen Gebrauchs-, sondern aufgrund des Kupfers auch einen ordentlichen Materialwert. Und so wurden sie auch ab und an gestohlen, wie das dem Weiacher Hans Jakob Duttweiler Ende Februar 1840 passierte:

«Bekanntmachung. Da in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar d. J. dem Hs. Jakob Dutweiler zu Weiach in seinem am Hause stehenden Waschhause durch Einbruch ein bereits neuer Kupferbrennhafen sammt Hut mit zwei Rohr[e]n und mit einer kupfernen Klammer an den Rohren, und von diesen mit einem Bögli an den Hut versehen, und beide an 39 Pfund alt Schaffhausergewicht schwer, gestohlen worden sind, so werden die Herren Kupferarbeiter oder sonst Jemand, dem diese obbeschriebenen Gegenstände zum Kauf angeboten würden, höflichst gebeten, dem Unterzeichneten hiervon unverzüglich Anzeige zu machen, für welche von demselben eine Belohnung von 40 Franken, sofern mit der Anzeige die Entdeckung des Thäters verbunden ist, zugesichert wird. Weiach, den 28. Februar 1840.  Baumgartner, Gemeindammann.»

Wie man sieht, hat Duttweiler nicht lange gefackelt und sofort die Fahndung eingeleitet. Das auf die Ergreifung des Täters ausgesetzte Kopfgeld von 40 alten Franken war jedenfalls eine bedeutende Summe. Nach swistoval.ch wären das nach Werten von 2009 rund 700 Franken (umgerechnet mit dem Konsumentenpreisindex KPI), bzw. 4600 Franken (umgerechnet mit dem Historischen Lohnindex HLI).

Ob mit dem Schaffhausergewicht das leichte Pfund (4 Vierling zu 8 Lot = 459.972 g) oder das schwere (4 Vierling zu 10 Lot = 574.965 g) gemeint war, ist nicht bekannt.

Quellen

Donnerstag, 26. August 2021

Ode an die Weiacher Kirche

In der Handschrift des Weiacher Pfarrers Albert Kilchsperger (*1883 †1947; 1908-1940 in Weiach) ist uns die folgende kleine Ode an seine Pfarrkirche erhalten geblieben. Ob er selber der Urheber war, ist bislang nicht bekannt.

1) 

Wir grüssen Dich du Kirchlein,
in unserm Heimatdorf,
Hast mit dem schlanken Turme,
Schon manchem Sturm getrotzt!

2. 

Du bist uns stets ein Zeichen
von ächter Ahnen-Frömmigkeit 
[«ächter Ahnen» gestrichen und durch «unsrer Väter» ersetzt]
Die nie von uns mög weichen
so lange fliesst der Rhein!

3. 

Du bist ein Finger Gottes
Erhoben alle Zeit
Getreue Hüterin des Wortes
Von Gott & Ewigkeit!

4. 

Du wiesest unsere Ahnen
Zum wahren Lebensquell,
Zu Jesus Christ, zum klaren
Zum ewigen Gnadenquell!

5. 

Mög Wahrheit sich ergiessen
In manches Herz hinein
Und Lebensströme fliessen
Durch unser Dörfchen klein.

6. 

In deinen Mauern suchen
Verlangend Gross & Klein
Das Wort von Gottes Gnade
Und unsrer Seligkeit!

«Ein Finger Gottes». Der schlanke Turm des Dachreiters auf der Weiacher Kirche
(Bild: Deborah Meier, 26. August 2021)

Quelle

  • Kilchsperger, A.: Geschichte von Weiach. II. Teil. Kirchengeschichte v. Weiach von der Reformation bis zur Gegenwart!. Undatiertes Steno-Manuskript – S. 18.

Dienstag, 24. August 2021

Ein Goldschmied sorgte 1566–1569 für Ordnung in Weiach

In der Präambel der zum Schutz der Weiacher Gemeindewälder erlassenen Holzordnung von 1567 werden unter anderen Zürcher Ratsherren auch ein Jacob Stampfer und ein Ludwig Meyer erwähnt (vgl. WeiachBlog Nr. 1667). Diese beiden Zürcher Stadtbürger hatten zum fraglichen Zeitpunkt ein für Weiach besonders wichtiges Amt. Sie waren nämlich die Obervögte des Neuamts. Also sozusagen  Regierungsstatthalter mit den Vollmachten eines Gouverneurs.

Stampfer war von Beruf eigentlich Goldschmied, Medailleur und Stempelschneider, ein Handwerksmeister; heute würden wir ihn wohl als Kleingewerbler bezeichnen. Lassner (e-HLS, 2013, vgl. Quellen) sieht ihn als den künstlerisch bedeutendsten Zürcher Goldschmied seiner Zeit. Jakobs Vater war 1502 aus Konstanz eingewandert (Lehmann 1908). Die Stampfer gehörten somit nicht zu der mit Reichtümern gesegneten obersten Führungsschicht der Stadt Zürich. Erst mit knapp über 60 Jahren wurde Jakob zum Obervogt gewählt.

Die Grundlast eines Neuamts-Obervogts

Über sein Leben und Wirken berichtet Emil Hahn in einem 1915 in den Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft erschienenen Aufsatz. Im Abschnitt «Als Vogt» liest man über Jakob Stampfers späten Jahre:

«Die zürcherischen Vogteien teilten sich hauptsächlich in die innern von kleinerer Ausdehnung, welche von der Stadt als Wohnsitz des Vogtes aus bedient werden konnten, die äussern mit Schlössern oder festen Häusern als Amtssitzen, ferner diejenigen, welche als gemein eidgenössisches Untertanenland nur abwechslungsweise von Zürich besetzt werden konnten. Die innern wurden jeweils von zwei Ratsherren versehen, deren jeder ein Jahr lang regierte, ohne dass die Amtsdauer beschränkt gewesen wäre. Dem Inhaber kamen als Einnahmen bloss die Fasnachthühner, Vogtgarben, Bussenanteile und einzelne Verehrungen zu. Als Verwalter einer solchen innern Vogtei und zwar des Neuamtes diente Stampfer in den Jahren 1566 — 1569 zusammen mit Ludwig Meier. Die Pflichten bestanden in der Abnahme der Huldigung, der Führung des Mai- und Herbstgerichtes, im Neuamt zu Niederglatt gehalten, im Einzug der Steuern und Gefälle (Pfundschilling etc.) und in der Beaufsichtigung der Gemeindeverwaltung.»

Reich wurden die Neuamts-Obervögte bei diesem Amt jedenfalls nicht, wenn man sich die oben aufgeführten Abgaben ansieht. Es handelte sich eher um eine Art Milizamt, das nebenamtlich bekleidet wurde. Die Obervögte wohnten auch während ihrer Amtszeit in der Stadt Zürich, wo sich auch die Neuamtskanzlei befand.

Weiach gab besonders viel Arbeit

An den Mai- und Herbstgerichtstagen in Niederglatt mussten die Weiacher übrigens nicht teilnehmen, denn sie hatten ihr eigenes Dorfgericht, das im Auftrag des Fürstbischofs von Konstanz von Kaiserstuhler Stadtbürgern präsidiert wurde.

Diese Nähe zu Kaiserstuhl war es nun, die den Punkt Beaufsichtigung der Gemeindeverwaltung gerade im Fall von Weiach besonders aufwändig machte. Stampfer nahm sein Amt ernst und hat 1566 – wie wir aufgrund der Angaben von Hahn annehmen müssen – bezüglich Holzschlägen die Notbremse gezogen (vgl. WeiachBlog Nr. 1665). Mit einem Totalverbot bei hoher Bussandrohung. Dass es wohl erst diese Massnahme war, welche die Protagonisten auf der katholischen Seite an den Verhandlungstisch zwang, davon schreibt Hahn zwar in der Folge nichts, aber es wird der Eindruck vermittelt, dass Stampfer der Initiator war:

«Unter den Gemeinden des Neuamtes litt damals Weiach, das, wie auch einzelne dortige Einwohner, gegenüber Privatpersonen in Schaffhausen stark verschuldet war, unter vernachlässigter Verwaltung. Eine der ersten Amtshandlungen Stampfers war, hier Ordnung zu schaffen, indem er, unterstützt von seinem Amtskollegen, mit dem bischöflich-konstanzischen Vogt Magnus Besler zu Kaiserstuhl Verhandlungen pflog, um den verwilderten Forstbetrieb und Weidgang zu verbessern, „damit der Gmeind nachkommen, Kind und Kindeskind, dess hernach gfreut und etwan ein wenig schulden abbezahlt werden möchten"»  

In der zu diesem Abschnitt gehörenden Fussnote 79 wird auf  «St.A.Z. Vogteiakten A 135.2» verwiesen. Das sind die Akten der Obervogtei Neuamt für die Jahre 1552 bis 1572, eines von vier Dossier für den Zeitraum von 1367 bis 1798. In diesen wenigen Jahren ist also einiges gelaufen, sonst würden die Akten nicht ein ganzes Dossier füllen. 

In StAZH A 135.2 (v.a. in Dokumenten aus dem Jahre 1566) könnte sich auch die Antwort auf die offene Frage finden, welcher Anteil an dieser ganzen Arbeit, die zur Holzordnung führte, dem Obervogt-Kollegen Ludwig Meyer zuzuschreiben ist.

Offensichtlich hat Stampfer seine Arbeit im Neuamt aus Sicht seiner Vorgesetzten (Bürgermeister und Kleiner Rat) nicht schlecht erledigt, denn bereits Ende 1569 wurde er zum Landvogt der Herrschaft Wädenswil gewählt, eine wesentlich verantwortungsvollere Stellung, die er von 1570 bis 1577 bekleidete. Diese wohlhabende Gegend, zu der auch das an der Goldküste gelegene Uetikon am See gehörte, hatte sich Zürich erst 1550 durch Kauf gesichert (vgl. Wikipedia-Artikel).

Quellen und Literatur
  • Weiacher Holzordnung. Pergamenturkunde StAZH C I, Nr. 2979 vom 15. Juli 1567. [Regest: Karl Merk Sittich, Bischof von Konstanz und Herr der Reichenau, Bürgermeister und Rat von Zürich sowie Johanns Melchior Hegentzer von Wasserstelz heissen die von den Verordneten: Mangnus Bässler, konstanzischem Vogt in Kaiserstuhl, Bürgermeister Bernhard von Cham sowie den Ratsherren Jacob Stampfer, Jacob Röüst und Ludwig Meyer vereinbarte Holzordnung betreffend Fronwälder und gemeinen Hölzer in Weiach gut. Es siegeln Kardinal Sittich, die Stadt Zürich und Johanns Melchior Heggentzer.] Druck: SSRQ ZH NF II/1, Nr. 180.
  • Lehmann, H.: Hans Jakob Stampfer: Ein Zürcher Medailleur und Goldschmied der Reformationszeit. In: Zwingliana, 2/8 (1908) – S. 225–236.
  • Hahn, E.: Jakob Stampfer, Goldschmied, Medailleur und Stempelschneider von Zürich 1505-1579. In: Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich. Band 28 (1915-1920), Heft 1, Seite 1-90. Zürich 1915 – S. 29.
  • Lassner, M.: Jakob Stampfer. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 10.01.2013.
  • Dbachmann: Jakob Stampfer. Artikel in der englischsprachigen Wikipedia, March-July 2020.
  • Brandenberger, U.: Artikelserie zur Holzordnung von 1567, vgl. Quellen bzw. Inhaltsübersicht zu WeiachBlog Nr. 1670 v. 11. Juni 2021.

Montag, 23. August 2021

Die Schweiz als japanischer Tempel

Überrascht? Diesen doch nicht ganz alltäglichen Vergleich brachte der grünliberale Nationalrat Jörg Mäder an seiner diesjährigen 1.-August-Ansprache in Weiach. Er erklärte den Zuhörenden, wie etwas jahrhundertealt und gleichzeitig neu gebaut daherkommen kann. Und was das mit unserem Staatswesen zu tun hat.

Mit einem Jahr Zeitversatz

Geselliges Beisammensein am Abend des Bundesfeiertages. Was in Weiach seit Jahrzehnten Tradition hat, wurde letztes Jahr «coronisiert». Es fand ganz einfach nicht statt, u.a. mangels einsatzbereiter Helfer (vgl. auch WeiachBlog Nr. 1557). Nun hätte man das Kernstück des Anlasses, die Rede, auch in Form einer Online-Ansprache halten können. Aber da fehlt halt einfach die menschliche Essenz: der Kontakt zu den Zuhörenden. So ist es vielleicht ganz gut, dass diese im Vorfeld erwogene Option nicht gezogen wurde.

Mäder hat sich zusammen mit den Organisatoren entschieden, seine Ansprache zu vertagen. Mit einem Jahr Versatz ist damit aus einer ungehaltenen Rede eine gehaltene geworden. 

WeiachBlog freut sich, den Volltext des Redemanuskripts für die Nachwelt festhalten zu dürfen. Wie üblich wurde der Text orthografisch durchgesehen und ist ansonsten im Originalzustand. Kursiv gesetzter Text stammt von Jörg Mäder. Nichtkursive Zwischentitel sowie Internetlinks sind redaktionelle Ergänzungen.

Ansprache von Nationalrat Jörg Mäder, glp, zum 1. August 2021

«Sehr geehrte Weiacherinnen,

sehr geehrte Weiacher,

Es ist mir eine Ehre und Freude anlässlich dieser 1. August Feier mich mit ein paar Worten an Sie wenden zu dürfen.

Stellen Sie sich ein Holzhaus vor, ein altes, richtig altes Holzhaus. Vielleicht ein Schweizer Bauernhaus, eine norwegische Stabkirche oder ein japanischer Schrein. Was sehen Sie? Schwere massive Holzbalken, von Sonne und Wetter gealtert, dunkel, vielleicht auch gräulich-blass. Das im Kontrast zu einem eben gerade erstellten Holzhaus, das hell, oft gold-gelblich erscheint, ja schon fast strahlt. Holz sieht man sein Alter an.

Dem Zahn der Zeit trotzen

Ich habe vorhin bewusst japanische Schreine erwähnt. Einer dieser Tempel, der Ise-Jingū wird jährlich von 6 Millionen Menschen besucht und ist über 1200 Jahre alt. Wenn sie ihn aber besuchen wird er gold-gelblich erstrahlen, als sei er gerade eben erst erbaut worden. Und das stimmt auch. Er wurde vor acht Jahren gebaut. Zum 62. mal. Im Jahre 2033 wird er, traditionsgemäss komplett abgebaut und zum 63. mal wieder neu aufgebaut. Alle 20 Jahre wird das gemacht, seit Jahrhunderten.

Für mich ist diese Tradition ein wunderschönes Sinnbild dafür, dass Alter mehr ist als nur das Zählen der Jahre. Denn dieser Tempel ist gleichzeitig 1200 Jahre alt, aber auch nur 8 Jahre. Und auch sein Ende ist einerseits schon festgelegt, gleichzeitig aber auch noch völlig offen. 

Es ist für mich eine Metapher, dass wer sich erneuert, dem Zahn der Zeit trotzen kann. Natürlich ist es ein extremes Beispiel. Exakt alle 20 Jahre wird erneuert und zwar alles, komplett und wieder in der exakt selben Art und Weise. Das ist nicht überall angebracht. Aber der Ansatz sich regelmässig selbst zu betrachten, sich zu hinterfragen, sich auseinanderzunehmen und sich zu erneuern, der gefällt mir.

Warum erzähle ich Ihnen das? Nun, wir feiern heute den Geburtstag einer schon recht alten Dame, unserer Heimat, der Helvetia. Keine Angst, ich möchte die Schweiz nicht alle 20 Jahre komplett abreissen und wiederaufbauen, das wäre doch ein wenig übertrieben. Aber der Schweiz ist es gelungen, sich in diesen Jahrhunderten immer wieder neu zu erfinden. Bestehendes zu hinterfragen, Bewährtes zu behalten, Veraltetes zu verwerfen und Neues zu wagen. Dank diesem Ansatz kann sich unser 730 Jahre altes Land als moderner Staat bezeichnen. Man muss jung bleiben um alt zu werden.

Von Eroberungsfeldzügen zur immerwährenden Neutralität

In der Vergangenheit waren es oft Kriege, die uns dazu brachten uns zu hinterfragen und neu zu erfinden. Ich meine, wir haben uns mit ein paar spektakulären Schlachten von den Machthabern rund um uns lösen können. Später dann waren wir in zahlreichen Schlachten präsent, nicht aber als Partei, sondern als Söldner, Reisläufer. Und das hat sich gelohnt, finanziell vor allem, aber auch bezüglich unseres Rufes in ganz Europa. Später haben wir uns, halb freiwillig, Stichwort Marignano, halb genötigt, Stichwort Wiener Kongress, für genau das Gegenteil entschieden. Wir machen ab jetzt in keinem Krieg mehr mit, der nicht unsere unmittelbare Verteidigung betrifft. Und wir leben gut mit dieser Entscheidung. Wir konnten zwei Weltkriegen ausweichen, obwohl wir geographisch mittendrin waren, sind als neutraler Staat weltweit akzeptiert und als Vermittler zwischen den Fronten glaubhaft.

Inhaltlich war das eine 180°-Kehrtwende. Aber sie war wichtig, sie war zentral für das Überleben unseres Staates. Wir mussten unser Haus, um es zu retten, massivst umbauen.

Ein anderer grosser Umbau war die Gründung der modernen Schweiz im Anschluss des Sonderbundskrieges. Wir wandelten uns von einem Staatenbund zu einem Bundesstaat um. Klingt im ersten Moment wie ein Wortspiel, ist aber entscheidend in der Art und Weise wie wir uns organisieren.

Wir sollten uns viel öfter hinterfragen

Aber es müssen nicht immer Grossereignisse sein, die uns zum Nachdenken bringen sollten und zu einer Erneuerung. Ich persönlich finde wir sollten uns viel öfter hinterfragen, Thema für Thema. Und ja, der Befund kann auch sein: "kein Problem gefunden, weiter wie bisher", aber auch, "nein, das müssen wir anders, das müssen wir besser machen". Aber einfach zu sagen, hat bisher funktioniert, wird also auch künftig funktionieren, das genügt mir nicht. Und Themen, denen wir uns annehmen sollten, deren gibt es viele. Lassen Sie mich zwei andeuten und über ein drittes etwas mehr sagen.

Ob Überschwemmungen oder Dürren, ob Plastikberge in den Ozeanen oder Mikroplastik in unserer Nahrung. Zu sagen, der Mensch hinterlasse Spuren in der Natur, ist eine Untertreibung, es sind eher Kratzer und tiefe Wunden. Noch profitieren wir davon, dass die Natur einiges aushält und ziemlich träge reagiert. Aber irgendwann ist der Kipppunkt erreicht. Es ist wie bei einem Baum, der gefällt wird. Wenn er einmal anfängt zu fallen, dauert es noch einem Moment, bis er auf dem Boden aufschlägt, aber aufhalten kann man ihn nicht mehr und um die Richtung zu ändern, ist es auch zu spät.

Die eigene Informationsblase verlassen

Wir leben im Zeitalter der Informationsgesellschaft. Wissen von allen Ecken und Enden der Welt, stehen uns per Fingertipp zur Verfügung. Klingt gut. Aber dummerweise wird dieselbe Technik auch dazu benutzt, uns komplett einzulullen in die Nachrichten, die wir gerne sehen. Das Internet hat gelernt, dass wir uns am besten fühlen, wenn unsere eigene Meinung bestätigt wird. Und wenn wir uns gut fühlen, konsumieren wir mehr. Also kreiert das Internet für jeden von uns eine eigene Informationsblase. Eine wohlige, aber eben auch sehr kleine Blase, die uns einengt und vom Rest der Welt entkoppelt. Anders gesagt, wenn ich die Metapher des japanischen Tempels wieder aufnehme: Wenn Sie wissen wollen, ob Ihr Haus noch im Schuss ist, müssen Sie nicht nur von Innen her alle Ecken inspizieren. Von Zeit zu Zeit sollten Sie mal auch rausgehen, einen Aussenblick wagen, aus der Distanz. Aber das bedeutet, die eigene Komfortzone zu verlassen, die eigene Blase aufzustechen.

Corona stellt uns auf den Prüfstand

Das dritte Thema ist Corona. Sars und Vogelgrippe haben uns damals verschont, waren Nachrichten aus der Ferne für uns, mehr nicht. Corona hingegen hat uns ins kalte Wasser geworfen und wir mussten rasch Schwimmen lernen. Vieles hat recht gut funktioniert, manches nicht. Perfektion war weder gefragt noch zu erwarten. Wir haben unseren Alltag angepasst, auf vieles Bekanntes verzichtet und Neues gelernt. Und vor allem haben wir auch sehr viel über uns selber und unsere Mitmenschen gelernt.

Wir haben gelernt, dass man vieles per Videocall machen kann, wir aber den persönlichen Kontakt doch sehr vermissen. Wir haben gelernt, dass wir ein super Gesundheitssystem haben, dass dieses die Digitalisierung noch nicht verstanden hat. Wir haben gelernt, dass es Solidarität gibt, aber nicht unbegrenzt, dass Nachbarschaftshilfe auf lokaler Ebene stattfinden muss, weil sie dort funktioniert, für Contact-Tracing aber selbst die kantonale Ebene zu klein ist. 

Wir haben gelernt, dass die Welt, die Weltwirtschaft, ein fein eingestelltes Uhrwerk war, das sehr schnell, effizient und günstig Menschen, Dienstleistungen, Waren und Wissen quer über den Planeten verteilen konnte. Aber robust war dieses System nicht. Wohlgemerkt, Corona ist zwar viel heftiger als eine Grippe, aber eine Pandemie in der Grössenordnung der Pest ist sie ebensowenig.

Wir haben gelernt, dass Gesundheit nicht nur Privatsache ist. Ja, Gesundheit beruht über weite Strecken auf persönlichen Voraussetzungen, Entscheidungen und Schicksal, aber nicht nur. Klar, wenn ich einen Armbruch habe, gehe ich zum Doktor und der hilft mir. Seuchen hingegen sind anders. Seuchen sind nichts Persönliches, sie betreffen alle, ob krank oder nicht. Darum bekämpft man Seuchen als Gesellschaft, als Team, nicht als Individuum oder gar Egoist. Klingt hart, ist aber so.

Kompromisse statt grosser Entscheide

Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Schweizer Geheimrezept ansprechen. Ein Rezept, das dafür sorgt, dass wir ein stabiles Land sind und somit auch hilft, Krisen wie diese zu meistern. Wir haben nie die Einheit gesucht, wir haben nie einen König oder ein Staatsoberhaupt ernannt. Wir verstehen die Schweiz als Willensnation, als ein Team von Kantonen. Kantone, die auf ihre Eigenheiten stolz sind, diese aber beiseite lassen, wenn es nötig ist. Wir haben auch nicht einen Chef, wir haben ein ganzes Team, den Bundesrat. Ein Team, das zudem bewusst nicht als Einheit aufgestellt ist, sondern als Sammelbecken der wichtigsten Strömungen im Land. Andere Länder suchen grosse Entscheide und glorifizieren diese für die Ewigkeit. Wir suchen Kompromisse, die wir, kaum gefunden, wieder hinterfragen und ständig weiterentwickeln. Die Schweiz wurde damals vor 700 Jahren von unseren Vorfahren nicht für die Ewigkeit gebaut, sondern sie wird von uns seit damals und ich hoffe noch für mehr als eine halbe Ewigkeit weitergebaut. Bestehendes wird hinterfragt, Bewährtes behalten, Veraltetes verworfen und Neues gewagt. 

Bevor ich Ihnen noch einen schönen Abend wünsche, möchte ich nochmals ganz kurz auf den Ise-Jingū-Schrein zurückkommen, auf einen Aspekt, der für mich perfekt ins Bild passt. Die ganze Tempelanlage liegt in einem hügeligen nahezu vollständig bewaldeten Gebiet. Dem Wald, der das Holz für den Tempelbau liefert.

In dem Sinne bedanke ich mich für das Gastrecht und ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen allen einen schönen 1. August. 

Danke!»

Kommentar WeiachBlog

Wir danken Ihnen, Herr Nationalrat! Das ist ein schön abgerundeter Denkanstoss, passend zum Nationalfeiertag. Einer, der einem auch im Gedächtnis bleibt, u.a. dank der Tempel-Metapher.

Denn es ist schon so wie der freischaffende Programmierer mit ETH-Doktortitel aus Opfikon sagt: ein Staatswesen, das nicht wie ein lebendiger Organismus funktioniert, das zerfällt unweigerlich. Am von ihm gewählten Beispiel kann man das gut zeigen. 

Japanische Kultur und Identität haben uralte Wurzeln und werden sorgfältig gepflegt. Eine solche Basis überlebt auch gravierende Kurskorrekturen wie sie nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg unausweichlich wurden. 

Der Ise-Jingū-Schrein dient dabei als eine Art Selbstvergewisserung. Weil er alle 20 Jahre neu gebaut werden muss, hat jede einzelne Generation einmal in ihrem Leben die Aufgabe, ihn – programmiertechnisch gesprochen – sozusagen in die nächste Iteration zu bringen. 

Das bedingt, dass alte Bautechniken von Generation zu Generation weitergegeben werden müssen und auch können, denn der Auftrag ist ja sichergestellt. Nicht umsonst gehörte eine Tempelbau-Dynastie zu den ältesten Unternehmen der Welt, vgl. die über 1400-jährige Geschichte von Kongō Gumi.

Das Bauunternehmen könnte aber nichts ausrichten ohne das Baumaterial. Mäders Hinweis darauf, dass der genannte Schrein nicht nur mitten in einem hügeligen Waldgebiet steht, sondern jeweils auch mittels Holz aus ebendiesem Wald erneuert wird (und nicht mit Holz von weiss Gott woher), schlägt die Brücke zu unserem Gemeinwesen, der Gemeinde Weiach. 

Deren Kraft und Tradition beruht nämlich zu einem guten Teil auf dem im Gemeineigentum stehenden Wald, wie man u.a. der Ortsbeschreibung von 1850/51 entnehmen kann. Wenn es diesem Wald gut ging, dann ging es auch den Weiacherinnen und Weiachern gut und vice versa. 

Metaphorisch formuliert: Ärger gibt es immer dann, wenn man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Denn ohne Wald kein Tempel. Und ohne Tempel kein Staatswesen.

Sonntag, 22. August 2021

Siben tussent Sacrament! Vor dem Wirtshaus geflucht

Soldaten der deutschen Bundeswehr bezeichnen ihre Organisation manchmal scherzhaft als «Y-Reisen» (wahlweise auch «Y Tours») mit dem Firmenmotto «Wir buchen, Sie fluchen». Y ist der Buchstabe im Autokennzeichen von Bundeswehrfahrzeugen.


Dass die Bundeswehr in den letzten zwanzig Jahren immer mehr auf weltweite NATO-Einsätze getrimmt wurde, ist kein Geheimnis. Und so wird wohl mancher Zeit- oder Berufssoldat still und leise (oder auch etwas lauter) fluchen, wenn er schon wieder für mehrere Monate in den Kosovo, ins afghanische Hochland, nach Djibouti oder in die malische Wüste abkommandiert wird (bzw. wurde, denn Deutschland wird ja jetzt nicht mehr «am Hindukusch verteidigt», wie Verteidigungsminister Struck noch im Jahre 2001 die Marschrichtung vorgab).

Fluchen als Demonstrationsform

Die Funktion des Fluchens ist klar. Es dient als Ventil angesichts einer übermächtigen Autorität, die keine Widerrede duldet. Es sei denn, man sei bereit, seinen gesamten bisherigen Lebensentwurf in Frage zu stellen.

Das Fluchen hat aber noch eine andere Funktion: es provoziert auch. Und zwar umso stärker, als damit die Basis des Machtgefüges angegriffen wird. In einem Staat mit theokratischen Fundamenten (wie es Zürich seit der Reformation war) ist daher Gotteslästerung eine sehr starke Auflehnung. Die maximale Herausforderung sozusagen, die mit Worten möglich ist, ohne gleich mit Aufstand, Revolution, Mord und Totschlag zu drohen.

Eine Tonne voll Herrgott

So war das auch im Jahre 1604, in der Amtszeit von Hans Felix Schörli, des ersten in Weiach wohnhaften Pfarrers. In den Zürcher Ratsmanualen (heute wären das die Regierungsratsprotokolle) ist ein solcher Provokationsfall erhalten. Da heisst es:

«,Sodanne uff ein Zyt zue Wyach vor dem Wirtshuß er zum offtern Mal siben thußent Sacrament, siben thußent Herrgot und ein Tonnen voll Herrgot geschworen.'» (Id. XIII 235)

Ein Wiederholungstäter also, der wohl schon vor den Stillstand zitiert und dort gemassregelt worden war, was aber nichts gefruchtet hatte! 

Die Idiotikon-Redaktoren haben dieses Beispiel des fluchenden Wirtshausbesuchers hier zur Illustration des Wortes «Donen» od. «Tonen» angeführt. Das kann nicht nur ein Transportfass sein (wie es der Fluchende hier nach Ansicht des Ratsschreibers gemeint hat), oder tausend Kilogramm.

Vielleicht ist das Ratsprotokoll aber nicht so genau und der fluchende Weiacher hat eigentlich nur mächtig auftrumpfen wollen. Denn «eine Tonne Gold (in der ä. Spr. auch 'Golds')» kann auch «eine Geldsumme von 100 000 Gulden, Kronen usw.» bezeichnen, schreibt das Idiotikon weiter unten im selben Artikel (Id. XIII 235).

In WeiachBlog Nr. 1692 haben wir gesehen, dass ein Handwerker damals rund 1/4 Gulden pro Tag verdient hat. Bei einem Jahreseinkommen von (sehr gut gerechnet) 250 Gulden verdiente ein Normalsterblicher eine Tonne in 400 Arbeitsjahren. Eine Tonne ist also einfach unvorstellbar viel. Etwa so, wie wenn die Micky-Maus-Übersetzerin Erika Fuchs dem Dagobert Duck ihre Wortschöpfung «Fantastilliarde» in den Mund legt und dieser sich darüber entsetzt, dass das ja ein Tausendstel seines Gesamtvermögens sei.

Interessanterweise redet man heute noch mundartlich von einer «Tonne», wenn man eine Million Franken meint. Aus der Luft gegriffen ist das nicht: 1000x1000 Gramm, d.h. eine Million, sind 1 Tonne. 

Die Sache mit den Sakramenten

Eine ähnliche Übertreibung dürfte bei den siebentausend Sakramenten vorliegen, denn eigentlich gibt es (nach katholischer Lehre) nur sieben Sakramente. Nachdem noch im Hochmittelalter über die Anzahl gestritten wurde, legte sich erst das Konzil von Trient (1545-1563) verbindlich auf die Siebenzahl fest (Taufe, Firmung, Ehe, Eucharistie (=Abendmahl), Busse, Krankensalbung und Weihe der Geistlichen). 

Wer als Reformierter diese Siebenzahl aussprach, der betätigte sich quasi als Ketzer, indem er katholische Glaubensinhalte aufs Tapet brachte. Denn die evangelisch-reformierte Kirche zürcherischer Prägung kennt nur zwei Sakramente (Taufe und Abendmahl), die überdies lediglich Symbolcharakter haben.

Wie an anderer Stelle im Idiotikon referenziert, wurden die sieben Sakramente in einem Prozess vor dem Zürcher Rat 1567 auch ohne Vertausendfachung schon als Fluchen gewertet: «'[Die beiden angeklagten Frauen haben] volgente schwüer durcheinanderen getan, als namlich Gotz himel, tussent Hergot, siben sacrament, touff, krütz, lyden, element.' Z RB. 1567» (Id. VII, 47)

Z RB. Die Rat- und Richtebücher der Stadt Zürich seit dem 14. Jhdt. (Mskr. im Zürcher Staatsarchiv).

Fluchen und Schwören musste aber von den damaligen Regierungen nur schon deshalb geahndet werden, weil sich ihre Untertanen fürchteten, dass solches Verhalten den Zorn Gottes über sie bringen könnte, vgl. das Verbot, das der Kaiserstuhler Rat am 21. Januar 1681 erlassen hatte (vgl. WeiachBlog Nr. 411, s. Literatur).

Quellen und Literatur

Samstag, 21. August 2021

Güterzusammenlegung wie die «praktischen Nord-Amerikaner»?

Im Jahre 1850 hatte der Landwirthschaftliche Cantonal-Verein (heute: Zürcher Bauernverband) einen Wettbewerb ausgeschrieben: für sogenannte «Ortsbeschreibungen».

Auch der 1846 gegründete Gemeindsverein Weiach (sozusagen ein lokaler Ableger) beteiligte sich und reichte eine solche Ortsbeschreibung ein. Ein Exemplar derselben wure 1855 in die Turmkugel auf dem Dachreiter der Weiacher Kirche gelegt. Es wurde 1967 durch den Ortschronisten Walter Zollinger transkribiert, 2004 durch Ulrich Brandenberger elektronisch erfasst und anlässlich der Ausstellung des Ortsmuseums Weiach im Herbst 2005 in wenigen Exemplaren herausgegeben. Aktuell arbeitet der Wiachiana-Verlag an einer kommentierten Edition der Ortsbeschreibung.

Für ein breites Publikum

Im Auftrag des Cantonalvereins hat Johann Michael Kohler im Jahre 1852 eine Broschüre zusammengestellt, welche die (aus damaliger Sicht) interessantesten Passagen aus den eingereichten Arbeiten einem grösseren Kreis landwirtschaftlich Interessierter zur Verfügung stellte.

Bereits im Vorwort nimmt Kohler das Rationalisierungsparadigma auf. Konkret: das Zerstückelungsproblem, das besonders in Gebieten mit Realteilung grassiert (wie dem Kanton Zürich). Da erhält bei Erbteilung nicht etwa nur EIN Nachfolger den gesamten Hof. Nein, es wird gehälftelt, gedrittelt, geviertelt, etc. Was seinen Niederschlag in den Katasterplänen findet. Und die Konkurrenzfähigkeit senkt, wenn andere ihren Grössenvorteil ausspielen können.

Quadrate herrenlosen Landes?

So schreibt Kohler im Vorwort (S. 1-2): «Wem leuchtet das Vortheilhafte zerstreut liegender Gehöfte, mitten in ihren Besitzungen nicht ein gegenüber den bäuerlichen Ortschaften aus dicht zusammengepferchten Wohnhäusern bestehend, denen die Besitzungen so ferne liegen, daß die Hälfte der Zeit mit dem nutzlosen Hin- und Hergehen und Fahren verloren geht.»

Eine durchaus treffende Charakterisierung der Situation in Weiach. Und weiter: 

«Aber auch die Art der Begränzung für ganze Gemeindsmarkungen, wie für einzelne Besitzungen ist nicht gleichgültig. Regelmäßig verlaufende Gränzen sind leicht zu bezeichnen, und dergleichen Ländereien fördern die Bearbeitung. Die praktischen Nord-Amerikaner fassen ihre noch auszugebenden Territorien (Ländergebiete) im Ganzen, wie im Einzelnen in lauter Quadrate. Bei uns, wo dergleichen freie, herrenlose Ländereien nicht vorkommen, wo aus uralter Zeit her die Begränzungen stammen, ist es nicht mehr möglich, diese Vortheile in ganzem Maße zu gewinnen. Doch ließe sich bei Käufen, Tausch und durch Zusammenlegen der Güter, wie dieses durch den landwirthsch. Gemeindsverein Weyach empfohlen wurde, mit der Zeit auch in dieser Hinsicht Manches bessern, und in Uitikon sind im Laufe von 3 Jahren über 40 Stück Landes ausgetauscht worden, behufs Zusammenlegung größerer Flächen für einen und denselben Eigenthümer.»

Hier zeigt sich die damals gängige Einstellung. Die weiten Flächen Amerikas, die von den Indianern genutzt wurden (nur halt eben nicht so intensiv wie von sesshaften Ackerbauern und Viehzüchtern) werden hier - im Einklang mit der herrschenden Doktrin in den USA - als Terra nullius verstanden, ein Konzept, das auch von einem Schweizer Rechtsgelehrten (Emeric de Vattel) propagiert wurde und das Recht verlieh, das Land primitiver Stämme zu kolonisieren.

Es ist kompliziert und dauert

In Weiach dauerte es noch viele Jahrzehnte bis zur umfassenden Güterzusammenlegung. Zwar schreibt Gottlieb Binder 1930 in einer auf Kohlers Schrift abgestützten Artikelserie in der Bülach-Dielsdorfer Wochenzeitung: «Der landwirtschaftliche Verein von Weiach strebte schon um 1850 bei Kauf und Tausch die Zusammenlegung von Gütern an.»

Das war aber vor allem Idee und Ideal und weniger gelebte Praxis wie in Uitikon. Heisst es doch in der Ortsbeschreibung Weiach im Original:

«Die Feld- u. Holzwege der Gemeinde sind in den letzten 20 Jahren nicht bloss weiter geführt, sondern zugleich vermehrt u. hie & da in bessern Stand gesetzt worden, doch findet die besonders hiefür niedergesetzte Wegkommission fortwährend manches Nöthige anzuregen und durchzuführen, wobei die Pläne aber nicht selten an der Hartnäckigkeit einzelner Anstösser scheitern.» (Allgemeiner Theil; Strassen u. Wege)

Das beschreibt das Problem recht gut. Denn: Je zerstückelter, desto grösser die Herausforderung, eine Lösung zu finden. Erst in den Jahren 1984 bis 2002 gelang das Projekt Güterzusammenlegung. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil mittlerweile Dutzende von Betrieben eingegangen und die meisten Weiacher nicht mehr von der Landwirtschaft abhängig waren. Sichtbares Zeichen der modernen Zeit sind die Aussiedlerhöfe im Hasli, im Eschter oder auf der Müliwis. Und mit den grossen landwirtschaftlichen Maschinen der an zwei Händen abzählbaren, heute noch übriggebliebenen Betriebe sind wir tatsächlich so quadratisch und nahe an Amerika, wie das nur geht.

Quellen und Literatur

  • Landwirthschaftliche Beschreibung der Gemeinden Dettenriedt, Höngg, Thalweil-Oberrieden, Uitikon, Wangen, Weyach, bearbeitet nach den von genannten Orten eingegangenen Ortsbeschreibungen von J. M. Kohler, Seminarlehrer, und als Beitrag zur Kenntniß des Landbaues im Kanton Zürich, herausgegeben von dem Vorstande des landwirthsch. Vereines im Kanton Zürich. Zürich, Druck von H. Mahler. 1852. Online: Google Books (Exemplar der University of California Berkeley); e-rara.ch (Exemplar der Zentralbibliothek Zürich, Signatur: NO 1214)
  • Binder, G.: Die landwirtschaftlichen Verhältnisse der Gemeinde Weiach um 1850. In: Bülach-Dielsdorfer Wochen-Zeitung, 24. Oktober (Nr. 86) bis 4. November 1930 (Nr. 89). 5-teilige Artikelserie.
  • Die Güterzusammenlegung kommt doch noch. Abschnitt in: Brandenberger U.: Weiach – Aus der Geschichte eines Unterländer Dorfes, 6. Aufl., V 6.40, August 2021S. 60.

Donnerstag, 19. August 2021

Hauptstrasse durchs Städtchen Kaiserstuhl? Planung von 1851/52

Wo die Hauptstrasse Nr. 7 (Basel-Winterthur) heute durch unsere Gegend führt, das ist allgemein bekannt. Südlich der Bahnlinie und ziemlich gradlinig im Verlauf. Und südlich des Städtchens Kaiserstuhl.

Aber haben Sie gewusst, dass die Zürcher sich nach dem 1845/46 vollendeten Ausbau der Strassen zwischen Weiach und Glattfelden bzw. zwischen Weiach und Raat (heutige RVS 566) sehr intensiv mit dem weiteren Streckenverlauf auf Aargauer Gebiet befasst und eine Rheinuferstrasse favorisiert haben?

Welche Überlegungen man in den ersten Jahren des Bundesstaates in dieser Frage angestellt hat, das zeigt sich in den Erwägungen zum «Beschluß betr. Fortführung resp. Korrektion d. Straße von Weiach nach Kaiserstuhl», den der Zürcher Regierungsrat am 26. Juli 1856 fasste:

An den Rhein hinunter mit der Strasse!

«Betreffend die Vollendung der Straße 2ter Klasse von Seebach nach Weiach hat sich ergeben:

A. Die Straßen zweiter Klasse von Seebach bis Weiach u. von Winterthur bis Weiach sind nur bis außerhalb des letztgenannten Ortes korrigirt, von dort bis Kaiserstuhl besteht noch die alte Straße. In den Jahren 1851 u. 1852. fanden zwischen den zürcherischen & aargauischen Behörden Verhandlungen wegen der Fortführung dieses Straßenzuges über Kaiserstuhl bis Rümikon Statt u. die Baukommission übernahm die Ausarbeitung eines bezüglichen Projektes, wobei man zürcherischerseits diejenige Richtung bevorwortete, welche unten durch die Ortschaft Kaiserstuhl führen würde.
»

Zur Illustration des unter Punkt A der Erwägungen genannten Streckenverlaufs (auf der Basis der aus diesen Jahren stammenden Topographischen Karte des Kantons Zürich, der sog. Wild-Karte).


Den Aargauern fehlt das Geld - und der Mut, den Zürchern das zu sagen

«B. Auf eine Einfrage der Direktion der öffentlichen Arbeiten über den Stand dieser Angelegenheit berichtet der Baudirektor des Kantons Aargau unter Uebersendung von Plänen mit Schreiben vom 1t Heumonat [1. Juli]:

Die Straßenrichtung unten dem Rheine nach möge einige Zeit lang der vorherrschenden Begünstigung sich zu erfreuen gehabt haben, allein schon im Jahr 1852 sei dem Kantonsstraßenbaumeister die Weisung ertheilt worden, ein anderes & weniger kostspieliges Projekt bearbeiten zu lassen, welches nur die Verbesserung der bestehenden alten Straße bezwecke. Diese Vorarbeiten seien nun bewerkstelligt worden u. es gehe aus den angestellten Berechnungen hervor:

1o) dass das Projekt unten dem Rheine nach durch die Ortschaft Kaiserstuhl gekostet hätte:
a) im Kanton Zürich auf 4660' Länge Frk. 18000.
b) im Kanton Aargau “ 15000' “ “ 189,471.
zusammen für 19,660' “ “ 207,471.

2o) dass dagegen das Projekt längs der alten Straße, unter Verminderung aller Steigungen
auf ein Maximum von höchstens 3 bis 4 Prozent kosten würde:
a) für Zürich auf 4260' Länge Frk. 17,670.
b) für Aargau “ 16250' “ “ 126,788.
zusammen auf 20,510' “ “ 144,458.

Nach dieser Zusammenstellung wäre das Projekt der alten Straße nach nur um etwa 850' länger als dasjenige einer neuen Straße dem Rheine nach, der Ingenieur gebe jedoch in seinem Berichte die Differenz zum Nachtheil der alten Richtung auf 1250' Mehrlänge an bei einem Minderkosten
[sic!] von Frk. 67,000.»

Die badische Eisenbahn wird unseren Verkehr übernehmen!

Die Aargauer glaubten aber nicht nur das Kostenargument auf ihrer Seite zu haben. Sie hatten auch die Strasse über Fisibach und Siglistorf Richtung Baden im Blick. Und rechneten offenbar fest damit, das grossherzoglich-badische Eisenbahnprojekt werde den Verkehr unweigerlich aufs andere Ufer des Rheins ziehen:

«Bei diesen nur zu Gunsten einer Verbesserung der alten Straße sprechenden Berechnungen, bei dem nicht erheblichen Umwege u. bei noch überdiess durch die badische Eisenbahn vermindertem Verkehre auf dieser Strasse, bei der für die benachbarten aargauischen Ortschaften ungünstigen Einmündung auf eine unten in Kaiserstuhl durchziehende neue Straße als Hauptverkehrsader, sowie auch bei den vielerlei im ganzen Kanton theils schon aufgetauchten, theils immer noch auftauchenden Begehren um neue Strassenanlagen u. bei den hiefür beschränkten finanziellen Kräften, sei nicht wohl anzunehmen, dass ein rationeller Neubau dieses Strassenzuges in nächster Zukunft genehmigt würde, vielmehr werde man sich darauf beschränken & froh sein müssen, im Sinne der planirten Verbesserung der alten Straße nach & nach vorschreiten zu dürfen, zumal noch viel wichtigere Korrektionen u. Straßenneubauten bevorstehen.

Wenn daher von Seite Zürichs mit der Korrektion der Straße von Weiach gegen Kaiserstuhl vorgeschritten werden wollte, so könnte dieses nur im Sinne des Projektes über Verbesserung der alten Straße derart geschehen, dass die korrigirte Straße in die alte bei einem Punkte u. zwar so ausmünde, dass dadurch aargauischerseits keine neue Anlage bedungen würde.
»

Die «dachgähe» Hauptgasse ist ein Problem

Damit waren die Zürcher Pläne zur Makulatur geworden, dabei hatten sie doch vor allem einen  verbesserten grenzüberschreitenden Warenverkehr zum Ziel: 

«C. Die Direktion der öffentlichen Arbeiten berichtet, das Straßenprojekt unten durch Kaiserstuhl sei zürcherischerseits namentlich desshalb in Anregung gebracht worden, um den diesseitigen Gemeinden eine zuläßige Verbindung mit dem rechtseitigen Rheinufer über die Rheinbrücke bei Kaiserstuhl zu verschaffen, da die Brückenzufahrt über die dachgähe Gasse durch Kaiserstuhl hinab in der That fast nicht mehr als zuläßig erklärt werden dürfe.»

Wer die steile Kaiserstuhler Hauptgasse kennt (so steil wie ein Dach, jedenfalls deutlich steiler als 3-4%!) und sich überlegt, wie man diese Steigung mit schwerbeladenen Fuhrwerken hat überwinden müssen, der kann das Zürcher Argument problemlos nachvollziehen. Das Argument mit der badischen Eisenbahn fanden die Zürcher wenig stichhaltig:

«Wenn sich der Verkehr mit dem Großherzogthum Baden in dieser Gegend bedeutend vermehren u. dadurch eine bessere Verbindung mit dem rechtseitigen Rheinufer dringender werden würde, so könnte, da die zürcherische Kantonsgrenze bis an die äußersten Häuser in Kaiserstuhl sich erstrecke, hierseits die Anlage der Straße nach der untern Gasse zu Kaiserstuhl beschlossen werden, wobei dann Aargau nur die ganz kurze Strecke in dieser Gasse bis zur Ablenkung gegen die Brücke auszuführen hätte.»

Die Kantonsgrenze verlief noch bis 1860 direkt entlang der östlichen Stadtmauer, wie man der Wild-Karte entnehmen kann (Grenzlinie mit Kreuzen). Ein ansehnlicher Teil des Kaiserstuhler Flurgerichtsbezirk lag also zum Zeitpunkt dieses Regierungsratsbeschlusses noch auf Zürcher Staatsgebiet - ein Relikt aus der Zeit der Stadtgründung Mitte des 13. Jahrhunderts.

Kommt Bahnlinie, kommt Rat

«Da indessen seit längerer Zeit von keiner Seite her die Ausführung einer solchen Verbindung verlangt werde, so dürfte der gegenwärtige Augenblick sich um so weniger hiefür eignen, als einerseits Aargau nicht geneigt sei, für diese Route irgend welche Kosten zu verwenden, u. anderseits der Einfluß, den die Fortführung der badischen Bahn bis in diese Gegend auf den Verkehr äußern werde, erst nach Vollendung der Bahn gehörig bemessen werden könne.»

Die Zürcher übten sich also in Realpolitik, denn es war klar, dass die Regierung in Aarau Schwierigkeiten haben würde, von ihrem Parlament nur schon grünes Licht für die billigere Variante zu erhalten.

Wie wir heute wissen, war dieser Entscheid so falsch nicht, denn anders als die Bahnstrecke auf Schweizer Seite (erst 1876 eröffnet, aber immerhin) wartet man in Hohentengen bis heute auf die badische Eisenbahn. 

Die heute Hochrheinbahn genannte Strecke hatte von Basel-Bad.Bhf. aus am 30. Oktober 1856 Waldshut erreicht. Danach verzögerte sich der Bau wegen Verhandlungen mit der Schweiz. Ab 1860 wurde weitergebaut, jedoch hinter dem Kalten Wangen durch und nördlich Griessen nach Erzingen, wo die Strecke dann über Schaffhauser Gebiet in die Munot-Stadt einmündet. Da haben die Schaffhauser offensichtlich besser verhandelt als die Aargauer und die Zürcher. Zur Diskussion stand einzig die Frage, ob man für die damals Badische Obere Rheinthalbahn genannte Strecke eine Linienführung durch das Wangental (Osterfingen-Baltersweil-Jestetten) in Betracht ziehen solle.

Wenn die sparen, dann sparen wir auch

Und so kam es, dass von all den grossen Plänen rein gar nichts übrigblieb. Nicht einmal eine Begradigung des Zürcher Abschnitts:

«Was dagegen die bestehende alte Straße von Weiach bis an die Kantonsgrenze oberhalb Kaiserstuhl betreffe, so sei dieselbe in ganz fahrbarem Zustande, habe ein durchaus günstiges Gefäll u. besitze auch genügende Breite, einzig sei die Richtung etwas gebogen; allein bei dem geringen Verkehr, der auf dieser Straße Statt finde u. der sich noch vermindern werde, wenn die Zurzacher Messe eingehen sollte u. die badische Eisenbahn einen Theil des Transportes abnehme, würde es nicht wohl zu rechtfertigen sein, eine Summe von ca 18,000 Frk. auf die Geradeleitung dieser ebenen Straße zu verwenden, um ein Paar Minuten an der Fahrzeit zu gewinnen.»

Nun, das hätte sich der damalige Regierungsrat nicht träumen lassen, was das Automobilzeitalter noch an Verkehrszunahme bringen würde. Trotz eingegangener Zurzacher Messe. Und so beschloss die Regierung:

«Die Direktion der öffentlichen Arbeiten wird beauftragt, die Frage der Fortführung, beziehungsweise der Korrektion der Straße von Weiach gegen Kaiserstuhl für einstweilen auf sich beruhen zu lassen.»

Mit dem Bau der Bahnlinie Winterthur-Koblenz kam diese auf Eis gelegte Begradigung dann sozusagen automatisch wieder auf den Tisch.

Quelle
  • Regierungsrat des Kantons Zürich: Beschluß betr. Fortführung resp. Korrektion d. Straße von Weiach nach Kaiserstuhl vom 26. Heumonat 1856. Signatur StAZH MM 2.133 RRB 1856/1041.

Mittwoch, 18. August 2021

Weiacher Grossbrand 1702: Rafzer Feuerläufer halfen beim Löschen

Feuerläufer? Heute kennt man das vor allem aus der Welt der Selbsterfahrungstrips. Männer, die über glühende Kohlen laufen, um sich selber zu spüren.

Vor 300 Jahren hatten Feuerläufer ganz profan mit Schadenbegrenzung zu tun. Dann, wenn es wirklich darauf ankam. Feuerläufer waren so etwas wie fliegende Verstärkungen bei Grossbränden in Nachbargemeinden. Wurde dort Sturm geläutet und mittels Boten um Hilfe gebeten, dann liefen diese Mannschaften an den Ort der Katastrophe und machten sich dort nützlich. Beim Bilden von Wasserkübel-Ketten, beim Herunterreissen des Strohs von Dächern mittels Feuerhaken, beim Stellen von Leitern um überhaupt auf die Dächer zu kommen. Wo halt eben gerade Manpower gebraucht wurde, um zu verhindern, dass das ganze Dorf abbrennt.

Ob Weiach auch solche Feuerläufer auf Pikett hatte, ist derzeit nicht bekannt. Für Rafz hingegen schon. Da hat Thomas Neukom (der heutige stellvertretende Zürcher Staatsarchivar) 2005 in seiner grossen Ortsgeschichte wie folgt berichtet:

«Zudem hatte sich immer eine gewisse Anzahl Feuerläufer bereitzuhalten, um bei einem Brand in den umliegenden Dörfern zu Hilfe eilen zu können. So halfen die Rafzer Feuerläufer beispielsweise im Jahr 1700 in Wilchingen oder 1702 in Weiach. Die Kosten zu Lasten der Steuerrechnung entstanden durch die auswärtigen Verpflegungskosten und besonders durch den Umtrunk, den die Läufer bei ihrer Rückkehr aus dem Steuergut bezahlt erhielten.»

Neukom bestätigt auf tel. Rückfrage von WeiachBlog, dass er sich für obige Aussagen insbesondere auf die Rafzer Gemeinderechnungen stützt.

Dazu, ob es für die Institution der Feuerläufer, die sogar überregionale Hilfsfunktion hatte (Wilchingen SH!) eigentliche Finanzausgleichsmechanismen zwischen Vogteien oder über die Zürcher Staatskasse gegeben hat, müssten genauere Abklärungen gemacht werden.

Und für Weiach steht die Analyse der wenigen noch erhaltenen «Gemeinderechnungen» der Jahre ab 1755 aus. Die Formulierung, sie enthielten «Ausgaben für Besoldungen, Spesen, Wachtdienste, Wasserversorgung, Brunnen, Feuerwehrwesen, Gemeinwerk, Schermauser.» (Otto Sigg im Gemeindearchivführer 2006) schliesst die Existenz von Weiacher Feuerläufern zumindest nicht aus.

Quelle und Literatur

  • Neukom, Th.: Rafz. Geschichte eines Zürcher Dorfes «ennet dem Rhein». Chronos-Verlag. Zürich 2005 – S. 227.
  • Sigg, O.: Archivführer der Zürcher Gemeinden und Kirchgemeinden sowie der städtischen Vororte vor 1798. Zeugnisse zürcherischer Gemeinde-, Verwaltungs- und Rechtskultur im agrarischen und kirchlichen Zeitalter. [Hrsg.: Staatsarchiv des Kt. ZH]. Zürich 2006 – S. 113  (Direktlink Weiach.auf zuerich-geschichte.ch; PDF, 22 MB auf Website StAZH)

Dienstag, 17. August 2021

Feuerwehr-Ausrüstung ist seit bald 500 Jahren Pflicht

Die Feuerwehr Weiach kann bald ihr 500-jähriges Bestehen feiern. Bei diesem runden Jubiläum ist es zwar wie mit der 750-Jahr-Feier: Wahrscheinlich hat es das Gefeierte vorher schon gegeben. Nur wissen wir davon nichts, weil keine schriftlichen Zeugnisse darüber bis in unsere Tage erhalten geblieben sind (oder sie der Ortschronist noch nicht gefunden hat).

Leitern und Haken...

Was die Ausrüstung der kommunalen Feuerwehren betrifft, da liegt für die Gemeinden im ehemaligen Neuamt aber ein solcher Beleg vor: Die erneuerte Offnung des Zwinghofs zu Neerach und der Vogtei Neuamt aus dem Jahre 1528. In deren Artikel 62 (nach Zählung Weibel, s. Quellen) mit dem Titel «Umb die füyrleyteren unnd -haagkhen» heisst es:

«Es sol ouch ein yetlich dorf jm Nüwenambt jre füyrhaken und für leyteren haben als zuo gmeinen handenn, damit, ob sy not anhiesse, das sy wol versechen und bewart syen.» (RQNA Nr. 4B 1528)

Zum Neuamt gehörten die im heutigen Zürcher Unterland westlich der Glatt gelegenen Dörfer und Weiler (mit Ausnahme von Zweidlen und Aarüti), die nicht Teil der Landvogtei Regensberg oder der Herrschaft Rümlang waren: Also Weiach, Raat, Windlach, Schüpfheim, Stadel, Neerach, Riedt, Hochfelden, Niederhöri, Oberhöri, Nöschikon, Niederglatt, Oberglatt (von den beiden letzteren nur Gebiete westlich der Glatt; das Gebiet östlich der Glatt gehörte zur Grafschaft Kyburg), Hofstetten, Oberhasli, Mettmenhasli, Niederhasli, Nassenwil, Adlikon (Gemeinde Regensdorf) sowie der «Ditikerhof» (südlich des Ortskerns von Dielsdorf), der Weiler «Schachen» (südlich von Glattfelden) und die Höfe «im Thal» (nordwestlich von Bachs).

All diese Dörfer und Weiler mussten im Gemeineigentum stehende Feuerhaken und Feuerleitern beschaffen (sofern nicht schon vorhanden) und sie so einlagern, dass sie bei einem Brand auch einsatzbereit und verfügbar waren. Am besten dezentral.

... aber keine Kübel

Interessanterweise steht im Artikel 62 nichts von Feuereimern, mit denen Wasser in Menschenketten zum Brandort transportiert wurde. Die Feuerhaken wurden jedenfalls gebraucht, um das Stroh von den Dächern zu reissen, vorzugsweise bei umliegenden Häusern, damit diese bei einem Grossbrand nicht auch noch ein Raub der Flammen wurden. 

Wenn also ein Grund gesucht wäre, um mit den Stadlern ein Fest zu feiern: Das Feuerwehr-Jubiläum im 2028 wäre einer. Zumal Glattfelden mit dem Weiler Schachen auch ein bisschen zum Neuamt gehört hat. Und bekanntlich organisieren Glattfelden, Stadel und Weiach ja seit 1996 ihre Feuerwehrpflichten gemeinsam, s. www.glastawei.ch. 2021 sind das nun auch schon 25 Jahre!

Quelle

  • Weibel, Th. (Bearb.): Offnung des Zwinghofs zu Neerach und der Vogtei Neuamt. RQNA Nr. 4. In: Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen. Die Rechtsquellen des Kantons Zürich. Neue Folge. Zweiter Teil: Rechte der Landschaft; Erster Band: Das Neuamt. Aarau 1996 – S. 18.

Montag, 16. August 2021

Einwohnerzahlen nicht einfach für bare Münze nehmen

Heutzutage ist alles exakt erfasst, genauestens ausgemessen und zweifelsfrei in Statistiken niedergelegt. Denn schliesslich sind wir ja besser als unsere Vorfahren. Oder etwa doch nicht? 

Manchmal muss man auch erkennen, dass eine Gesellschaft sozusagen einem kollektiven Dunning-Kruger-Effekt unterliegt, sie in gewissen Teilbereichen vor lauter Selbstvertrauen blinde Flecken hat.

So war es nach dem Ende des Ancien Régime weitverbreitet, sich für fortschrittlicher zu halten als die Vorfahren. Dass das punkto Methodik und Sorgfalt keineswegs zutreffen muss, darauf hat Gerold Ludwig Meyer von Knonau (1804-1858) bereits in der ersten Auflage 1834 seines historisch-geographisch-statistischen Werks über den Kanton Zürich hingewiesen, wo er über Bevölkerungszahlen schreibt:

«Die genauesten Volkszählungen sind diejenigen von 1634, 1671 und 1771. Die erstere veranstaltete Antistes Breitinger auf obrigkeitlichen Befehl, zur Beförderung des neu eingerichteten Kinderunterrichtes. Sie liefert nicht nur dem Statistiker gründliche Materialien, sondern enthält überdieß sehr viel bemerkenswerthes über den Zustand der religiösen Bildung der Jugend, über die Familiennamen und noch andere Verhältnisse. Die Zählung von 1671, welche Antistes Waser leitete, umfaßt beinahe dieselben Gegenstände wie diejenigen von 1634. Die Zählung vom Jahr 1771 wurde von der naturforschenden Gesellschaft in Zürich mit größter Sorgfalt angeordnet. Die neuern Volkszählungen sind, wie beinahe aller Orten, lückenhaft, indem aus Mangel an Interesse oder Geschicklichkeit, manche von denjenigen, welche die Zählung aufnehmen sollten, die Sache mit einem "ungefähr" beseitigten, einzelne Klassen übersehen, oder sie so anführen, daß die nämliche Person an zwei Orten gezählt wird. Bisweilen werden, um es sich bequem zu machen, vermuthliche Zahlen angenommen, und in einzelnen Fällen hat sogar die Gewinnsucht Hirten verleitet, die Zahl ihrer Schafe möglichst zu erhöhen.»

Sorgfalt und Archivierung von Rohdaten helfen bei der Plausibilisierung

Vor 250 und mehr Jahren war man im Zürcher Stadtstaat also exakter unterwegs als zu Lebzeiten Gerold Ludwigs. Dass diese Einschätzung nicht aus der Luft gegriffen ist, kann man heute noch überprüfen. Und zwar dadurch, dass man die Rohdaten (vollständige Familienlisten mit Namen und Geburtsjahren) mit anderen Daten aus derselben Gemeinde (z.B. in den Kirchenbüchern über Taufen, Ehen und Todesfälle) vergleicht und plausibilisiert. Für die Zahlen aus dem frühen 19. Jahrhundert fehlen diese Rohdaten aber in den Archiven weitgehend. Die Nachvollziehbarkeit ist nicht gegeben.

Werden einfach nur Endresultate gemeldet und bei der empfangenden Stelle für bare Münze genommen, dann kann das ins Auge gehen. Man erkennt die Ungenauigkeiten und begrifflichen Unschärfen auch nicht so einfach. Werden jetzt alle Bürger und Hintersassen gezählt, auch diejenigen, die nur alle paar Jubeljahre in der Heimat auftauchen? Oder setzt man auf die Zahl der tatsächlich Anwesenden, die naturgemäss tiefer ist, den tatsächlichen Verhältnissen aber näher kommt. 

Wer den Fehler macht, solche Datenerhebungen mit Anreizen zu kombinieren, der muss erst recht mit Verzerrungen rechnen. Sie es, weil die gezählten Untertanen misstrauisch argwöhnen, der Zweck der Erhebung können ja nur ein sinistrer sein, wie neue Steuern und dergleichen. Sei es wie weiland in Indochina. Da wurde eine Rattenplage in Hanoi von der französischen Kolonialverwaltung mit der Ausschreibung von Ablieferungsprämien richtiggehend befeuert. Denn die schlauen Vietnamesen fingen an, Ratten zu züchten, die brachten ja Geld.

Fazit: Bei den Bevölkerungszahlen für Weiach (vgl. Entwicklung im Wikipedia-Artikel Weiach) kann man nicht ausschliessen, dass – bildlich gesprochen – manchmal Äpfel und manchmal Birnen gezählt wurden. Wenn die Bemessungsgrundlagen schwer miteinander vergleichbar sind, dann sind es die erhobenen Zahlen natürlich genauso.

Quelle

  • Meyer v. Knonau, G. L.: Der Kanton Zürich, historisch, geographisch, statistisch geschildert. Beschreibung aller in demselben befindlichen Berge, Seen, Flüsse, Heilquellen, Städte, Flecken, merkwürdige Dörfer, so wie der Schlösser, Burgen und Klöster; nebst Anweisung denselben auf die genussvollste und nützlichste Weise zu bereisen. Ein Hand- und Hausbuch für Kantonsbürger und Reisende. St. Gallen 1834 – S. 61 [Schweizerische Nationalbibliothek, e-Helvetica, nbdig-40925].
Nachtrag

Auch wenn der spätere Staatsarchivar Gerold Ludwig Meyer v. Knonau die Erhebung von 1634 über den grünen Klee lobt, so muss doch festgehalten werden, dass auch da nicht alles so reibungslos ablief, wie es sich beim Lesen obigen Zitats vielleicht vermuten lässt, vgl. die 

Erläuterung zu StAZH E II 700 Bevölkerungsverzeichnisse im Online-Katalog des Staatsarchivs:

«Die Bevölkerungsverzeichnisse ("Catalogi", "Gmeind-Rödel" etc.) sind auf Veranlassung von Antistes Johann Jakob Breitinger (1575-1645) angelegt worden. Zur strafferen Erfassung der Katechumenen in der Stadt und auf der Landschaft forderte erstmals die "Ordnung der Dieneren der Kilchen in der Statt unnd uff der Landtschafft Zürich" vom 3. Mai 1628 jeden der Zürcher Synode unterstellten Pfarrer auf, "alle Jahr und eines jeden besonder, in ein ordenliche Verzeichnuß [zu] bringen die Namen aller Hußvätteren, Kinden unnd Diensten, damit er wüsse die zahl aller vertrauwten seelen" (Mandatsammlung III AAb 1.2, Nr. 34; Edition: Zürcher Kirchenordnungen, Bd. 1, Nr. 238, S. 676).

Nachdem bis im Frühjahr 1634 nur ganz wenige Prädikanten dem Aufruf gefolgt waren, sahen sich Bürgermeister und Rat erneut gezwungen - diesmal im Zusammenhang mit der Bekämpfung des "leichtfertigen Fluchens, Schwörens und Gotteslästerns" in der Stadt und auf der Landschaft - die saumseligen Pfarrer ernsthaft zur Ablieferung ihrer Verzeichnisse auf die Mai-Synode 1634 anzuhalten (E II 2, S. 75).»

Anzumerken ist, dass die Weiacher 1628/29 ganz andere Sorgen hatten als detaillierte Verzeichnisse zu erstellen. Im Frühjahr 1629 starb Pfr. Hans Jakob Böschenstein an der Pest (vgl. WeiachBlog Nr. 1501), im Herbst desselben Jahres sein Nachfolger Pfr. Hans Konrad Körner (ob ebenfalls an der Pest ist nicht bekannt), sodass im selben Jahr ein dritter Prädikant (Pfr. Hans Jakob Bluntschli) sein Amt antrat (also Zustände wie vor 1590). Da können solche Aufträge schon einmal untergehen. Immerhin hat Bluntschli 1634 geliefert, vgl. StAZH E II 700.119.

Sonntag, 15. August 2021

Dem Weberliheiri-Haus zum 60. Todestag

Wer schon länger in Weiach lebt, hat ihn sicher schon gesehen, den 45-minütigen Dorffilm, der aus Originalmaterial des Lehrers Kurt Ackerknecht zusammengestellt worden ist. Er wird gern gezeigt, so z.B. anlässlich der Ausstellung 40 Jahre Ortsmuseum (vgl. WeiachBlog Nr. 649)

Entstanden sind die Filmaufnahmen zwischen 1957 und 1965. Vor einigen Jahren war der Film auch über Youtube verfügbar (mittlerweile gelöscht). Vorteil eines Videos gegenüber einer Filmvorführung vor mehr oder weniger grossem Publikum: man kann den Film stoppen, zurückspulen, nochmals ansehen, etc. In dieser Zeit habe ich mir das Material genau ansehen können.

Architektonische Zeitreise

In der 14. Minute kommt ein Gebäude ins Bild, das am 15. August 1961, also heute vor 60 Jahren, das Zeitliche gesegnet hat. Es ist einem zeuselnden Kind zum Opfer gefallen. Vor genau zehn Jahren hat WeiachBlog darüber berichtet (vgl. Nr. 1043 v. 15. August 2011). Leider liege keine Nahaufnahme vor, steht da geschrieben. 

Eine gestochen scharfe Fotografie kennt der Schreibende bis heute nicht. Aber dafür gibt es die farbigen Filmaufnahmen von Ackerknecht! 

Et voilà: das Häuschen des Heinrich Meier-Dellenbach, genannt Weberliheiri, das von Walter Zollinger zu den ältesten Häusern von Weiach gezählt wurde:

Dieses Gebäude stand an der Verzweigung Chälenstrasse/Stockistrasse, dort wo heute eine Grünanlage und der Quartiertransformator mit der Versicherungsnummer 1 zu finden sind (vor Eröffnung des Werkhofs am Grubenweg 6 war hier auch noch ein Glascontainer aufgestellt). 

Es handelt sich offensichtlich um ein Taunerhäuschen, also die Wohnstätte eines Kleinbauern, der wenig oder gar kein eigenes Land besass und daher auf Zusatzverdienst angewiesen war. 
Auf der hier sichtbaren Vorderseite gegen die Stockistrasse ist lediglich eine Zweiteilung in Wohn- und Scheunenteil erkennbar. Der Stall für das Kleinvieh dürfte in der Scheune integriert gewesen sein. Erstaunlich ist, dass es so aussieht, wie wenn es eine Unterkellerung gegeben hätte (Holzzaun vor den drei Stubenfenstern).
    Die Stockistrassse aufwärts hatte sogar noch ein Baum Platz, bevor der Scheunenteil des Bauernhauses Stockistrasse 2a/b folgt. Und auch gegen die Chälenstrasse war da noch ein Baum. Das ging, weil die Strassen damals einerseits noch ungeteert und andererseits wesentlich schmaler waren als heute. Von Trottoirs keine Spur.

Als Ackerknecht die obige Szene gefilmt hat, weilte er auf dem Vorplatz der Liegenschaften Chälenstrasse 15 und 17. Man sieht das an der ersten Einstellung, auf der das Weberliheiri-Haus ins Bild kommt, wo ein roter Traktor die Chälenstrasse hinauf und an ihm vorbeifährt:

Ganz links noch knapp erkennbar: das Wohnhaus Chälenstr. 18 von alt Gemeinderat Max Griesser. Links von der Bildmitte im Hintergrund die Liegenschaft Stockistrasse 2a/b (Assek-Nr. 550) von alt Gemeindepräsident Paul Willi.

Samstag, 14. August 2021

Wenn es in der Kirche zu kalt ist

Ein Gebäude heizen, das man nur einmal pro Woche für zwei bis drei Stunden braucht? Da muss man entweder früh mit einheizen anfangen, wie die für die Weiacher Kirche Verantwortlichen feststellen konnten. Oder eben gar nicht heizen.

Nach aktuellem Stand des Wissens gab es in unserer Kirche erst seit 1888 eine mit Holz und Kohle betriebene Heizanlage. Es sind wohl die Reste des Kamins dieser Heizung, die Gregor Trachsel, der Architekt der Renovation 2020, wiederentdeckt und letzten September mit einem Bild im Mitteilungsblatt dokumentiert hat.

Ausweichlokalitäten

Bis dahin hätten also die Weiacherinnen und Weiacher zu Winterszeiten in ihrer Kirche jämmerlich gefroren (vgl. Jubiläumsbroschüre von 2006, S. 55). Es sei denn, man wäre von vornherein in einen geheizten Raum ausgewichen. 

Solche öffentlichen (oder quasi öffentlichen) Räume gab es in der Gemeinde durchaus. Und nicht nur im Wirtshaus zum Sternen. Seit 1836 hatte Weiach ja auch (wieder) ein Schulhaus, das diesen Namen verdiente, und entsprechend beheizt werden konnte.

Dass dieses auch regelmässig für kirchliche Zwecke genutzt wurde, zeigt sich im Protokoll der Sitzung der Kirchenpflege vom 27. Dezember 1875, an der alle Mitglieder der Pflege anwesend waren und wo als Punkt 4 notiert wurde:

«Für die Wintersonntage, an denen Kälte halber auch die Predigt in der Schule abgehalten wird», solle der Mesmer, um «Beschwerden wegen den Schulbänken abzuhelfen», die hintersten beiden Bänke zusammenschieben (und nach dem Gottesdienst wieder auseinander). Daraus lässt sich schliessen, dass die Unterweisung der Jugend in Religionsfragen im Winter wohl bereits im Schulhaus stattfand.

Das Schulhaus muss sowieso geheizt werden

Da schon die Zürcher Landschulordnung von 1658 verlangt hat, dass der Schulmeister «alldiewyl es kalt ist / am Morgen bey guoter zeit» die Schulstube zu heizen hat, «damit die Kinder ein warme Stuben findind / und in der Schuol nit friehren müssind» (vgl. Art. 14), konnte man das ohne grosse Zusatzkosten zu verursachen auch an einem Sonntag so praktizieren.

Das war zu Zeiten des Ancien Régime umso einfacher zu bewerkstelligen, als der Lehrer ja ohnehin dem Pfarrer unterstellt war und dessen Weisungen zu befolgen hatte. Man musste nur das Brennholz zur Verfügung stellen. 

1875 lag die Sache dann etwas anders, indem die Schulpflege nicht mehr dem Pfarrer unterstellt war. Aber auch hier wird man sich arrangiert haben, sonst wäre der oben zitierte Regieauftrag nicht so erteilt worden.

Quellen und Literatur 

  • Gwerb, R.: Christenliche und nothwendige Gebätte für die Schuolmeister und Lehrkinder auff der Landschaft der Statt Zürich; sampt beygethanen nutzlichen Schuol-Satzungen, so wol zuo beobachten. Getruckt zuo Zürich 1658 – S. 19.
  • Stünzi, J.: 5te Sitzung, den 27 Dec. 1875. In: Protocoll der Kirchenpflege Weÿach, 1838-1884. Signatur: ERKGA Weiach IV.B.6.2 – S. 338.
  • Brandenberger, U.: «ein nöüer Kirchenbauw allhier zu Weyach». 300 Jahre Kirche Weiach, 1706 – 2006. Herausgegeben von der Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Weiach und der Ortsmuseumskommission Weiach. Weiach 2006 – S. 55. [Online-Ausgabe 2007]
  • Brandenberger, U.: Dreijahresvertrag für den Kirchenheizer, 1891 bis 1894. WeiachBlog Nr. 1558 v. 5. August 2020.
  • Trachsel, G.: Notizen über die Renovationsarbeiten 2020. Datiert 7. August 2020. In: Mitteilungsblatt Gde Weiach, MBGW, Sept. 2020 – S. 17.

Freitag, 13. August 2021

Den Makel der Tochter der Aussenwelt gegenüber gedeckt

«What's in a name?», fragte William Shakespeare 1597 in seiner Tragödie Romeo und Julia. Und das Englische bietet gleich noch eine weitere sprachliche Wendung: «calling names». Heisst: jemanden hänseln, beschimpfen oder, zürichdeutsch gesagt, ihm Schlötterlige anhängen.

Namen transportieren Identität, Legitimität, Tradition, und was dergleichen immaterielle Werte (und Abwertungen) mehr sind. Und deshalb steckt hinter einer Namensänderung meist wesentlich mehr, als man auf den ersten Blick denkt.

Was der Zürcher Regierungsrat genau heute vor 125 Jahren auf dem Tisch hatte, trägt zwar den simplen Titel «Namensänderung», hat aber einen tragischen Hintergrund. Eine Geschichte von Ablehnung, Emigration und dem Versuch, trotz herrschender Sozialnormen das Leben erträglich zu gestalten.

Wenn die Jungfrau mit dem Eisendreher

Doch gehen wir medias in res, mittenhinein in dieses Geschäft. Denn das Protokoll legt Sachverhalt, Begleitumstände und Abgründe recht ausführlich dar. Bühne frei für eine Weiacher Tragödie des späten 19. Jahrhunderts:

«A. Mit Zuschrift vom 4. Mai 1896 stellt Herr Advokat Dr. Schnabel in Zürich namens der Fräulein Rosa Bersinger, geboren 1875 von Weiach, wohnhaft an der Schaffhauserstraße No. 65, in Zürich IV, außereheliche Tochter der Frau Witwe Katharina Gamper geb. Bersinger daselbst, im Einverständnisse der letztern, das Gesuch um Bewilligung an Rosa Bersinger zur Führung des Geschlechtsnamens „Gamper“, indem er zur Begründung seines Gesuches anführt:

Die jetzige Frau Katharina Gamper geb. Bersinger habe als Jungfrau Bersinger ein Verhältnis mit einem gewissen Jules Wasner, Eisendreher, von Marseille gehabt, welches den 16. Mai 1875 zur Geburt der Petentin Rosa Bersinger geführt habe. Zwei Jahre später sei die Jungfrau Bersinger mit ihrem Kinde von ihrem Heimatsorte Weiach nach Oerlikon gezogen und habe im Jahre 1880 den Mechaniker Gottfried Gamper in Stettfurt geheiratet.

Wohnhaft seien die Eheleute mit dem Kinde in Matzingen gewesen. Schon 1882 sei der Ehemann Gamper gestorben und Frau Gamper mit ihrer Tochter Rosa nach Oerlikon übergesiedelt. In den Schulen zu Oerlikon und nachher zu Unterstraß sei die Tochter Rosa nur unter dem Namen Rosa Gamper bekannt gewesen und von den Lehrern und Mitschülern immer so benannt worden, was aus einer Anzahl Schreibhefte, Zeichnungen und Zeugnisse hervorgehe. Nach Absolvirung der Primär- und Realschule sei die Rosa Bersinger in die Lehre getreten und auch in Lehrvertrag und Zeugnissen sei immer nur von einer Rosa Gamper die Rede. Ebenso in der Korrespondenz seien alle Briefe an Rosa Gamper gerichtet, eine Rosa Bersinger kenne niemand. Die Petentin habe bis vor wenigen Jahren nicht gewußt, daß sie uneheliches Kind sei und eigentlich Bersinger heiße. Erst in neuerer Zeit, als sie behufs Anstellung in einem ersten ausländischen Modegeschäfte die Aushingabe ihrer Schriften verlangt habe, habe sie gesehen, daß die Mutter mit ihrem Frauennamen den Mackel der Tochter der Außenwelt gegenüber gedeckt habe. Der Gedanke an ihre außereheliche Herkunft habe denn auch die Petentin viel gequält.

B. Der Gemeindrat Weiach, zur Vernehmlassung eingeladen ist für Abweisung des Gesuches, jedoch ohne stichhaltige Gründe in seinem Antwortschreiben vom 13. Juli 1896 vorzubringen, dagegen empfiehlt der Bezirksrat Dielsdorf in seiner Begutachtung vom 4. August 1896 das Gesuch zur Entsprechung. 

Hierauf hat der Regierungsrat, nach Einsicht der bezüglichen Akten, sowie eines Antrages der Direktion des Innern,

beschlossen:

I. Der Rosa Bersinger, von Weiach, geb. 16. Mai 1875, wohnhaft in Zürich IV, wird die Bewilligung erteilt, den Geschlechtsnamen „Gamper“ zu führen. 

II. Mitteilung an Herrn Advokat Dr. Schnabel in Zürich zu Handen der Petentin unter Rücksendung der Akten (Beilagen 1–11), an den Bezirksrat Dielsdorf und an den Gemeindrat Weiach für sich und zu Handen des dortigen Zivilstandsamtes.»

Wenn Sozialdisziplinierung Unschuldige trifft

Ja, man kann Katharina, der Mutter von Rosa Gamper vorwerfen, nicht ehrlich gewesen zu sein. Man kann ihr vorwerfen, ihrem Kind vorgespiegelt zu haben, einen anderen Vater zu haben. Das waren aber auch noch andere Zeiten. 

Der Makel, ein ausserehelich geborenes Kind, ein Kegel zu sein, hatte viele negative Auswirkungen. Obwohl ja das Kind selber am wenigsten dafür kann, so wurde es doch gemobbt und immer wieder auf diese illegitime Herkunft reduziert.

Man sieht hier, wie der jahrhundertelange, der gravierenden Ressourcenknappheit seit der Frühen Neuzeit geschuldete, obrigkeitliche Dressurakt der ländlichen Gesellschaft in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wilde Ehen und die daraus entstehenden Kinder als deren sichtbarer Ausdruck sind zu verhindern. Punkt.

Sich dem Zugriff entzogen

Noch in den 1860er-Jahren waren Eheverbote gang und gäbe. Und wurden von den Gerichten gestützt (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 64; s. Quellen und Literatur unten). Mit der Annahme der Bundesverfassung von 1874 war es aber schon etwas schwieriger geworden, diese Form der Sozialdisziplinierung durchzusetzen. Eheverbote aufgrund mangelnder Mittel waren ab da nämlich nicht mehr statthaft. Das Recht auf Ehe «darf weder aus kirchlichen oder ökonomischen Rücksichten, noch wegen bisherigen Verhaltens, oder aus andern polizeilichen Gründen beschränkt werden» (Art. 54 BV 1874)

Aus welchen Gründen Katharina Bersinger aus ihrem Heimatdorf Weiach – dessen Bürgerin sie bis zur Heirat mit dem Thurgauer Gamper war – weggezogen ist, das kann man nur indirekt erschliessen. Allenfalls ist in den Weiacher Armenprotokollen noch etwas Schriftliches zu finden (im Stillstandsprotokoll gibt es dazu keinen Eintrag). 

Unabhängig davon ist es bemerkenswert, dass man ihr das damalige Verhalten offensichtlich auch zwei Jahrzehnte später noch nachgetragen hat. Und sei es, weil sie zur alten Dorfaristokratie gehörte (worauf der Name Bersinger hinweisen könnte, denn diesen Namen trugen etliche einflussreiche Weiacher Untervögte im 18. Jahrhundert).

Den Gemeinderat Weiach wider den Strich gebürstet

Es spricht jedenfalls sehr für die Aufgeschlossenheit und Menschlichkeit des gesamten Verwaltungsapparats, vom Bezirksrat Dielsdorf über die Direktion des Innern bis zum Regierungsrat selber, dass man Rosa ihren gewohnten Namen belassen und die offizielle Nachvollziehung der eigenmächtig erfolgten Legitimierung genehmigt hat.

Wenn der Regierungsrat schreibt, der (als einziger) ablehnende Bescheid des Gemeinderates Weiach sei «ohne stichhaltige Gründe», dann können wir bis zum Auffinden allenfalls im Staatsarchiv oder im Gemeindearchiv noch vorhandener Unterlagen nur vermuten, welcher Art diese gewesen sind. 

Sie gingen wohl in die Richtung, dass man solches Verhalten (wie es die Abstammungslüge der Katharina Gamper-Bersinger darstellt) doch im Sinne der Generalprävention nicht noch belohnen dürfe. Aber eben: die Zeiten hatten – zwar rein juristisch, aber immerhin – bereits geändert.

Und so hat die Tragödie doch noch eine glückliche Wendung erfahren.

Quellen und Literatur

  • Namensänderung. Regierungsratsbeschluss Nr. 1489 vom 13. August 1896. Signatur StAZH MM 3.10 RRB 1896/1489
  • Brandenberger, U.: Gemeindrath hintertreibt Heirat. Johannes Meier (25) klagt vor dem Bezirksgericht Regensberg. Weiacher Geschichte(n) Nr. 64. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, März 2005.

Donnerstag, 12. August 2021

Beizenverbot für Sozialhilfeabhängige? Das ist nur die erste Stufe.

Wissen Sie, wie man in Verruf gerät? Nun, in früheren Zeiten griffen die Sozialbehörden zuweilen zu (aus heutiger Sicht) drastischen Methoden, wenn es darum ging, Unheil abzuwenden (oder das, was die Behörden dafür hielten).

Dazu gehörte auch die öffentliche Bekanntgabe eines Wirtshausverbots. Was in vorhergehenden Jahrhunderten noch ab der Kanzel verkündet wurde, das stand im ausgehenden 19. Jahrhundert als amtliche Mitteilung in der Zeitung. Mit vollem Namen, Zunamen und Geburtsjahr, wie z.B. im Bülach-Dielsdorfer Volksfreund vom 9. Juni 1880 (später unter dem Namen Neues Bülacher Tagblatt bekannt):

Wirthshausverbot.

«In Anwendung von § 29 des Gesetzes betreffend das Armenwesen wird dem Schuster Rudolf Baumgartner, geb. 1822, von und in hier, zubenannt Pfeifers, der Besuch der Wirthschaften und das Spielen untersagt. Wir machen vorzüglich die Wirthe in hier und in der Umgebung auf dieses Verbot aufmerksam.

Weiach, den 3. Juni 1880

Namens der Armenpflege:
J. Stünzi, Pfarrer.»

Massnahmen gegen Almosengenössige

Die Armenpflege war damals identisch mit dem sog. Stillstand, also der reformierten Kirchenpflege. Das war das gesetzlich vorgesehene Standardmodell, wie man in § 1 des Gesetzes betreffend das Armenwesen von 1853 sieht. Es wurde nach langen Abklärungen, heftigen Auseinandersetzungen und epischen Diskussionen im Kantonsparlament verabschiedet, um all die Probleme zu adressieren, die sich im Bereich der Armenfürsorge vor allem in den 1840er-Jahren gezeigt hatten. Einen Überblick zum Problemfeld gibt der Artikel Heiraten verboten! (vgl. Quellen und Literatur unten).

Das Thema Armenpolizei war als III. Titel im Gesetz von 1853 geregelt. Im Abschnitt A dieses Titels («Maßregeln gegen pflichtwidriges Verhalten Unterstützter») sieht man, dass die Massnahme gegen Rudolf Baumgartner eine Standardprozedur darstellte, die bereits ganz am Anfang einer Almosengenössigkeits-Karriere als gesetzlich festgelegter Schritt abgearbeitet wurde. 

Wirtshausverbot war Standard

Die oben zitierte Zeitungsausschnitt bedeutet deshalb nicht zwingend, dass Schuster Baumgartner ein Wirtshaushöckler oder gar Spielsüchtiger gewesen ist. In der öffentlichen amtlichen Mitteilung wird nicht umsonst auf den § 29 verwiesen. Dies diente vor allem dem Zweck, die direkt angesprochenen Wirte vor einer Busse zu bewahren: 

«§ 29. Jeder Almosengenössige, d. h. jeder Arme, der aus dem Armengute einer Gemeinde für sich oder die Seinen nicht bloß vorübergehend Unterstützung erhält, ist, insofern er überhaupt dazu fähig erscheint, zu angemessener Arbeit verpflichtet und die Armenpflege ist befugt, demselben solche nach ihrem Ermessen anzuweisen. 

Ebenso ist ein solcher Armer verpflichtet, von seinem allfälligen Erwerbe der Armenpflege Rechenschaft zu geben und denselben so wie die ihm ertheilte Unterstützung seinen Verhältnissen und der von der Armenpflege erhaltenen Weisung entsprechend zu verwenden, eine von dieser Behörde für ihn ausgemittelte Versorgung anzunehmen und überhaupt den Anordnungen derselben sich zu unterziehen. Diese Verpflichtungen gelten auch für solche Arme, welche Familienunterstützung genießen (§ 7), gegenüber den Anverwandten, welche diese letztere zu leisten haben.

Almosengenössigen ist der Besuch der Wirthschaften und das Spielen untersagt. Wer nach vorangegangener Warnung durch die Armenpflege Almosengenössige bei sich aufnimmt und bewirthet oder denselben zum Spielen Vorschub leistet, verfällt in eine Buße von Fr. 5, im Wiederholungsfalle von Fr. 10.»  

Umgerechnet nach dem Historischen Lohnindex von Swistoval.ch entsprachen 5 Franken im Jahre 1880 immerhin noch rund 275 Franken nach heutigem Stand; 1853 waren es noch über 550 Franken.

Hoheitliche Befugnisse für zahlungsverpflichtete Angehörige

Wer Verwandtenunterstützung bezog, war also rechenschaftspflichtig. Angehörige eines Almosengenössigen, die diesen unterstützen mussten, konnten qua Gesetz hoheitliche Befugnisse erhalten. Wenn sie dazu autorisiert wurden, durften sie diesem wie eine Behörde Anweisungen erteilen. Aus § 30 geht das (was in § 29 noch etwas verklausuliert formuliert ist) unmissverständlich hervor:

«§ 30. Unterstützten, welche jenen Vorschriften (§ 29) in der einen oder andern Weise zuwiderhandeln, soll nach fruchtloser Ermahnung von Seite der Armenpflege die Unterstützung, so weit dieß mit Rücksicht auf den körperlichen und geistigen Zustand des Fehlbaren und die Bedürfnisse schuldloser Glieder seiner Familie zulässig ist, entzogen werden.

Zu demselben Verfahren kann die Armenpflege unterstützende Anverwandte gegenüber den von ihnen unterstützten Familiengliedern ermächtigen, wenn diese letztern die ihnen obliegenden Pflichten (§ 29, Lemma 1) nicht erfüllen.»

Stufe 2 war also die Entziehung der Unterstützung, d.h. Kürzung der Sozialhilfe-Leistungen bis auf Null, was, wie oben erläutert, dann nicht zulässig war, wenn schuldlose Angehörige darunter zu leiden hatten. Dass es gegen Renitente weitere Stufen gegeben hat, ist deshalb nicht verwunderlich.

Stufe 3: Arrest bei Wasser und Brot

«§ 31. Wenn die Entziehung der Unterstützung erfolglos oder unzulässig ist, so kann die Armenpflege Einsperrung bei gewöhnlicher Kost, oder als Verschärfung bei Wasser und Brod und je den zweiten Tag einer Suppe bis auf die Dauer von vier Tagen verhängen. Bei fortwährender Widersetzlichkeit kann die Einsperrung mit Einwilligung des Statthalteramtes bis auf acht Tage verlängert werden. Die Einsperrung kann in einem Armenhaus, oder in einer andern geeigneten, von der Bezirksarmenpflege als zweckmäßig anerkannten Lokalität, die von jeder politischen Gemeinde, oder beziehungsweise von den zu einer Kirchgemeinde gehörenden politischen Gemeinden gemeinsam anzuweisen oder nöthigenfalls herzustellen ist, stattfinden. Statt der Einsperrung kann mit Einwilligung des Statthalteramtes die Anlegung des Blockes oder angemessene Strafarbeit, z. B. an Straßen, bis auf das Doppelte ihrer Dauer verhängt werden.»

Anlegen des Blockes! Da sind also noch antik-mittelalterliche physische Zwangsmassnahmen vorgesehen. Inwieweit die 1880 noch in Betracht gezogen wurden, wäre abzuklären. Wenn man andererseits das heutige Repertoire an physischen und medikamentösen Zwangsmassnahmen berücksichtigt, dann ist die Strafandrohung (bis auf den Stock, der je nach Modell eine Art Folter sein kann) vergleichsweise moderat.

Vierte Stufe: Gefängnisstrafe nicht unter 2 Wochen

«§ 32. Bleibt die Anwendung auch dieser Maßregel ohne Erfolg, so ist die betreffende Person durch das Statthalteramt dem Bezirksgerichte zur Bestrafung wegen Ungehorsams (§ 106 des Strafgesetzbuches) zu überweisen. In solchen Fällen soll die Strafe nicht unter zwei Wochen Gefängniß herabgehen. Statt eines Monats Gefängniß kann das Gericht im Wiederholungsfalle Eingrenzung in die Gemeinde bis auf drei Monate verhängen und bei Ueberschreitung der Eingrenzung oder wiederholten Rückfällen Anlegung des Blocks damit verbinden. Die Bezirksgerichte haben Fälle der Art mit aller thunlichen Beförderung zu erledigen.»

Was die Behörden nach Ausschöpfung all dieser im Gesetz betreffend das Armenwesen vorgesehenen Massnahmen gemacht haben? Bei einem Renitenten, der lediglich nicht arbeiten will, wie man ihm das vorschreibt, der ansonsten aber nicht straffällig wird? Dazu mehr in einem späteren Beitrag.

Quellen und Literatur

  • Gesetz betreffend das Armenwesen vom 28. Juni 1853, Signatur: StAZH OS 9 (S. 260-279) – S. 271-274.
  • Bülach-Dielsdorfer Volksfreund, Nr. 44, 9. Juni 1880 – S. 4.
  • Brandenberger, U.: Heiraten verboten! Armenwesen und Finanzen vor 150 Jahren. Handout zum Vortrag anlässlich der GV 2005 der Anlegervereine Midas und Heureka. Zürich, 14. März 2005.
  • Brandenberger, U.: Armensteuern nötig wegen zu vielen Sozialhilfeempfängern. WeiachBlog Nr. 168 v. 21. April 2006 [Nr. 168]
  • Brandenberger, U.: Eine Generation, an öffentliche Unterstützung gewöhnt. WeiachBlog Nr. 401 v. Dienstag, 20. März 2007.
[Veröffentlicht am 13. August 2021 um 00:40 MESZ]