Freitag, 9. Juli 2021

Sirenenalarm, weil es per Telefon nicht geht

Heute um Mitternacht herum konnte die helvetische Nation erneut die Fragilität moderner Kommunikationsinfrastruktur bewundern. Es passiert mittlerweile alle paar Monate. Irgendeine IT-Komponente (ob Soft-, Hard- oder Wetware) hat dem Notrufsystem über Stunden einen Totalausfall beschert. Die Nummern 112, 117, 118 und 144 waren tot. Und blieben es im zürcherischen Staatsgebiet bis zur Entwarnung kurz nach halb 10 Uhr.

Notfunk SE-079

Wer kein Radio mehr hört (und das werden doch einige sein), der musste allerdings schon die App von Alertswiss abonniert haben, um das überhaupt mitzubekommen. Da war dann zu lesen:

«Störung in der Notrufkommunikation. Die Kantonspolizei Zürich ist ab sofort über die folgenden Telefonnummern erreichbar:», gefolgt von acht Mobiltelefonnummern.

Irgendwie erinnert einen das an Militärzeiten. Wenn der eigene Funk nicht funktioniert, dann weicht man schnell aufs private Handy (Sender-Empfänger 079) aus. NATEL C-Einsatz im Manöver wurde noch Ende der 80er-Jahre mit tagelangem scharfen Arrest bestraft, samt Bekanntgabe des Vergehens und Namensnennung vor versammelter Truppe. Heute kräht kein Hahn mehr danach. Denn an diesem Lebensfaden genannt Smartphone hängt ja mittlerweile alles dran.

Im Hintergrund steht die Elektrizitätsversorgung. Wenn die grossflächig ausfällt, dann geht's allerdings wirklich schief: bei Blackout innert weniger Tage per Zeitsprung ein Jahrhundert zurück. In die Zeit vor Weihnachten 1912, als es in Weiach noch keinen Strom gab.

Risiko Talsperre

Im gestrigen Beitrag (WeiachBlog Nr. 1689) war von der kriegerischen Bedrohung aus der Luft die Rede. Ab spätestens 1937 wurden Massnahmen des Luftschutzes auch in unserer Gemeinde vorbereitet. 

Dass eine mit Flugzeugen hochgerüstete Militärmacht auf die Idee kommen könnte, den Staudamm des erst im Jahre 1920 ans Netz gegangenen Kraftwerks Eglisau bei Rheinsfelden anzugreifen, das haben aber viele wohl erst 1944 so richtig realisiert, als alliierte Bomber am 9. November auch dort ihre tödliche Fracht abgeworfen haben (vgl. WeiachBlog Nr. 1617 vom Neujahrstag).

Die Zerstörung einer Talsperre ist ein Terrorakt gegen die Zivilbevölkerung, denn von einem «surgical strike» (einem chirurgisch präzisen Luftschlag, der Kollateralschäden minimiert) kann da keine Rede sein. Im Gegenteil: der angestrebte Effekt ist ja gerade die resultierende Flutwelle. Und es ist auch völlig egal, von wem der Angriff ausgeführt wird. 

Insofern muss auch die von den Alliierten durchgeführte Operation Chastise von Mitte Mai 1943 als Kriegsverbrechen gewertet werden. Damals wurden Talsperren in Deutschland mittels tonnenschwerer Roll- oder Rotationsbomben zerstört: darunter die Möhnetalsperre und die Edertalsperre.

 
Bildquelle: Deutsches Bundesarchiv 183-C0212-0043-012. Zerstörte Edertalsperre

«Am 17. Mai 1943  [kurz vor 2 Uhr nachts] lösten sich aus den nur 18 Meter hoch fliegenden Maschinen der Royal Air-Force vier Tonnen schwere Spezialbomben, klatschten in die Fluten und übersprangen die Sperren vor den Mauern. Es brachen der Damm der Möhnetalsperre in 77 Meter Länge und 20 Meter Tiefe und der Damm der Edertalsperre in 70 Meter Länge und 22 Meter Tiefe. Die dann zu Tal schießenden Wassermengen der insgesamt 304 Millionen Kubikmeter Wasser fassenden Talsperren richteten ungeheure Verwüstungen an und töteten im Gebiet der Möhne 1.200 Menschen, im Gebiet der Eder eine nicht mehr zu ermittelnde Zahl, aber mindestens 300.» (Quelle der Bildbeschreibung: Wikipedia)

Aufgeschreckte Schweizer

Die spektakuläre Aktion gegen Staumauern, die propagandistisch ausgeschlachtet wurde, hat auch in der Schweiz die Verantwortlichen aufgeschreckt, wie man dem 360-seitigen Schlussbericht des Territorialkreises 5 über den Aktivdienst 1939-1945 entnehmen kann. 

In Beilage 8 über die «Wassergefahr-Abwehrmassnahmen» schreibt der Stabschef (SC) Ter. Kdo. 5, Oberstleutnant Schaffner, einleitend (Kap. 1 Rhein-Wassergefahr, PDF-S. 153):

«Es war nach der erfolgten Zerstörung der Eder- und Möhnetalwerke in Deutschland durch die Alliierten, als uns Kdo.Gz.Br.5 mit Schreiben vom 27.5.43 darauf aufmerksam machte, dass man in Deutschland Angriffe auf weitere Talsperren befürchte, insbesondere auf die Schluchsee- und die Schwarzasperre im angrenzenden Schwarzwald. Nutzinhalt der Schluchseesperre 108 000 000 m3 mit einer Unterwasserhöhe von ca 900 m; Ausgleichsbecken von ca 1.2 Millionen m3 [hinter der Schwarzatalsperre], Gesamtgefälle zum Rhein 620 m; Wassererguss bei Sperrenzertrümmerung durch die Schwarza in die Schlücht, durch diese in die Wutach und damit in den Rhein, mit Ueberflutung von Thiengen und aller unserer flachen Rheinufer im Abschnitt von Rietheim bis Basel.»

Nicht untätig geblieben, trotz zivilen Obliegenheiten

Es ist wohl der personell ziemlich unterdotierten Organisation des Territorialdienstes zuzuschreiben, dass der Obgenannte nicht sofort in seinem gesamten Verantwortungsbereich systematisch nach solchen Wassergefahren Ausschau gehalten hat. Denn seine zivilen Obliegenheiten liefen ja während der Kriegsjahre weiter, da unterscheidet sich der «Ter.Kr.5» vergangener Tage in keiner Weise von der heutigen militärischen Struktur, den Kantonalen Territorialverbindungsstäben (KTVS). Das sind reine Milizverbände, bestehend aus wenigen Stabsoffizieren.

Oberst Frey, der Kommandant Ter Kr. 5 und Vorgesetzte Schaffners, zeigt in seinem Bericht auf, dass auch der Bundesrat sehr wohl erkannt hatte, was die Operation Chastise bedeutet:

«Durch BRB vom 7.9.43 ist dann den Ter.Kdo. befohlen worden, auch den Wasseralarm im Hinblick auf allfällige Zerstörungen an schweiz. K.W. zu organisieren. [...] Die Wasseralarmangelegenheit hat zuerst bei der Zivilbevölkerung nicht das notwendige Verständnis gefunden. Durch unsere Aufklärung und durch die Uebungen, die durchgeführt worden sind, ist aber die Bevölkerung von der Notwendigkeit der Aktion überzeugt worden und hat sich den Befehlen und Weisungen, die wir erteilt haben, unterzogen.» (S. 11 Hauptteil)

Im zweiten Kapitel der Beilage 8 beschreibt Schaffner den «Wasseralarm Wettingen», um dann im dritten Kapitel auf das oben genannte Kraftwerk Eglisau einzugehen (S. 4-5 des Berichts, PDF-S. 156-157):

«Wasseralarm bei Zerstörung K.W. Eglisau»

«Unterm 16.11.44 übertrug uns die Abt. Ter. Dienst sodann nach dem erfolgten Bombenangriff auf das K.W. Eglisau [am 9. November, s. oben] die Organisation des Wasseralarms in Kaiserstuhl für die Möglichkeit einer Sprengung des Stauwehrs Eglisau. 

Auch diese Aufgabe wurde mir delegiert. Kostenzuständig war die Direktion N.O.K., Baden [Nordostschweizerische Kraftwerke, heute Axpo].

Nach erfolgter Rekognoszierung und allseitigen Verhandlungen erliess ich die Weisungen an die Direktion N.O.K. und den Gemeinderat Kaiserstuhl vom 18.11.44. Es zeigte sich, dass nach erstellter Wasserstandskarte eine Zerstörung des Stauwehrs K.W. Eglisau nur den sogenannten Rheinhof oberhalb Kaiserstuhl (Gemeinde Weiach) zu betreffen vermochte. Die zahlreichen am Rheinflussbett gelegenen Bunker würden allerdings unter Wasser gesetzt und damit auch aufgehoben werden müssen.»

Keine freie Telefonlinie vorhanden

Die rekordverdächtige Geschwindigkeit zwischen Auftragserteilung (16.11.) und Befehlsgebung (18.11.) lässt vermuten, dass die Ingenieure ihre Hausaufgaben längst gemacht hatten, samt aussagekräftigen Überflutungskarten. Und auch der Stabschef hatte das Thema seit Mai 1943 gedanklich durchdrungen. Er erläutert, welche Massnahmen getroffen wurden:

«Nach allseitiger Verständigung und im Einverständnis mit der Abt. Ter. Dienst wurde vereinbart, in RheinsfeIden eine Sirene einzubauen und von den dort stationierten Trp. bedienen zu lassen.

Der Pächter des Rheinhofs, Gemeinde Weiach, wurde angewiesen, den Hof bei Ertönen der Sirene zu verlassen und alle Lebewesen und wegspülbaren Wertsachen feldeinwärts gegen Weiach in Sicherheit zu bringen, andere technische Mittel kamen hier nicht in Frage; eine Tf.-Leitung nicht, weil keine freie Linie vorhanden war. Der Rheinhof liegt in Hörweite der Sirene Rheinsfelden; andere Mittel konnten nicht zur Verfügung gestellt werden.»

13 Millionen Kubikmeter

Rechnen wir einmal aus, wieviel Wasser hinter dem Stauwehr bei Rheinsfelden liegt. Der Rückstau geht bis zur Thurmündung, das sind 14 Kilometer. Die Staustufe selber hat gemäss Landeskarte eine Höhe von 10 Metern (oberhalb des Wehrs 344 m ü.m., unterhalb 334 m). Gehen wir von einer durchschnittlichen Gerinnebreite von 180 Metern aus, dann sind das maximal 13 Millionen Kubikmeter, die bei einer totalen Zerstörung des Wehrs abfliessen.

Das ergibt immer noch eine beeindruckende Flutwelle, die durch die mitgeführten Trümmer des Wehrs und des Kraftwerks, sowie entlang des Ufers mitgerissene Bäume umso zerstörerischer wirkt, insbesondere durch Verklausung. Die Kaiserstuhler Rheinbrücke wäre da aufgrund ihres Mittelpfeilers höchst gefährdet. Auf Weiacher Gebiet ist allerdings nur der seit Jahren unbewohnte Rheinhof betroffen.

Und was machte der Rheinhof-Pächter?

Bis die Flutwelle von Rheinsfelden her den Rheinhof auf Weiacher Gebiet erreicht hat (d.h. eine Strecke von ca. 3.5 km zurückgelegt hat), dauert es deutlich weniger als fünf Minuten ab dem Zeitpunkt, wo das Wehr bricht, denn Hindernisse fehlen flussabwärts bis zur Rheinbrücke Kaiserstuhl-Rötteln völlig. Nehmen wir ein Szenario an wie bei der Möhnetal- oder Edertalsperre, wo sich das Loch erst durch die Gewalt der ausströmenden Wassermassen erweitert hat, dann hat man zwar nach dem Luftangriff noch etwas Zeit. Aber höchstens ein paar wenige Minuten.

Siegfriedkarte 1930, 1:25 000, mit Rheinhof und dazugehörendem Wasserrad

Was der vom SC Ter.Kdo. 5 angesprochene Pächter konkret an Vorkehrungen getroffen hat, weiss WeiachBlog nicht. Ein vorsorgliches Depot wichtiger Maschinen an höhergelegener Stelle, z.B. auf etwa 350 m ü.M., am oberen Ende des Griesgrabens (etwa dort wo sich heute die ehemalige Weiacher Kläranlage befindet), wäre eine Möglichkeit gewesen. An dieser Stelle ist man bereits hoch genug über dem Rheinufer, sodass die Flutwelle, selbst wenn sie den Griesgraben hochdrückt, den Standort wohl nicht mehr erreicht. Ob das zutrifft, darüber müsste die Überflutungskarte Aufschluss geben können.

Im Krieg galt: Abschnittsgrenzen nicht gleich Kantonsgrenzen

Stellt sich noch die Frage, warum das Territorialkommando 5 auch für Weiacher Gebiet zuständig war. Im Gegensatz zur aktuellen Situation, wo die Territorialverbindungsstäbe und auch die Territorialdivisionen mit ihren Abschnittsgrenzen exakt den Kantonsgrenzen entsprechen (analog der Organisation vor dem Zweiten Weltkrieg) wurde die Schweiz in 13 Territorialkreise eingeteilt, wobei die Abschnittsgrenzen von den Kantonsgrenzen gelöst und den Abschnittsgrenzen der Feldarmee angepasst wurden (vgl. Nicolas, W.: Der Territorialdienst seit 1887. In: 100 Jahre Territorialdienst, Beiheft zur Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift, ASMZ Nr. 1, 1988).

Quelle

  • Schaffner (Oberstlt.): Bericht über Wassergefahr-Abwehrmassnahmen im Ter. Kr. 5. In: Frey, R. (Oberst), Ter.Kdt.5: Bericht über den Aktivdienst Ter.Kdo. 5 für die Zeit vom 29.8.1939 - 20.8.1945 - Beilage 8, PDF-S. 152-157.  Schweizerisches Bundesarchiv, Territorialkreiskommando 5, 1941-1945. Signatur: BAR E27#1000/721#14878-5*

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