Montag, 30. Dezember 2019

Ist die älteste Darstellung unserer Kirche nach der Natur gezeichnet?

Antwort: Ja, ist sie. Zumindest ist das sehr wahrscheinlich.

Denn vom selben Zeichner, dem Pfarrerssohn Johann Heinrich Meister (1700-1781, vgl. Allgemeine Deutsche Biographie 21, 1885), geboren in Stein am Rhein, das damals zum Zürcher Herrschaftsbereich gehörte, sind allein für das Jahr 1716 mindestens 18 Zeichnungen in der Graphischen Sammlung der Zentralbibliothek Zürich erhalten, darunter die vom Weiacher Kirchenbezirk (vgl. Swissbib-Suchresultat).

Braune Tinte, ad vivum del. et fec.

Alle sind im selben Stil gehalten: «braune Tinte, grau laviert». Sie zeigen Monumente staatlicher Tätigkeit mit einem Einschlag in Richtung fortifikatorischer Werke, was vier Jahre nach dem für die Reformierten siegreichen Zweiten Villmergerkrieg auch kein Wunder ist. Man vergleiche den «Prospect von der Redoute bey dem Dörffgen Hütten, die Hütter-Schantz genannt, wie sie von den Zürchern im Toggenburger-Krieg 1712 ist erbaut worden, von Mitnacht anzusehen». Dazu passen die modernen «Wehrkirchen-Anlagen» von Schönenberg und Weyach.

Aus demselben Jahr 1716 sind unter den 18 eingangs genannten auch Zeichnungen Meisters von Zollikon, Regensberg, Eglisau, Küsnacht, Teufen, Wädenswil, Bubikon, Bülach, Dürnten, Richterswil und Rüti erhalten, welche oft die Kirche abbilden. Die Zeichnung der Zolliker Kirche enthält den expliziten Vermerk «ad vivum delineavit et fecit», d.h. dass Meister behauptet, sie «nach der Natur» gezeichnet zu haben. Bei etlichen anderen findet man den abgekürzten Vermerk «ad viv. del. et fec.».

Mühe mit der Perspektive? Aber die Mauern müssen drauf sein!

Nach der Natur also. Man sieht es der Weyacher Darstellung allerdings an, dass ihr Urheber noch etwas Mühe mit dem perspektivischen Zeichnen hat, was angesichts seiner Jugend und mutmasslich autodidaktischen Ausbildung entschuldbar ist:


Die Mauer, die von der südöstlichen Kirchenmauer nahe dem Chor ausgeht, ist in ihrem Verlauf auf Meisters Zeichnung nicht etwa auf die Pfarrscheune (heutiges Kirchgemeindehaus) ausgerichtet, sondern nach einer deutlich erkennbaren 90°-Ecke auf das Waschhaus (Assek-Nr. 241)! Ein solches Mauerstück zwischen der Pfarrscheune und dem Waschhaus gibt es ja auch heute noch, wenn auch weniger hoch und ohne Schiessscharten. Hinter dem Waschhaus nahe dem Tor ist zwischen dem Pfarrhaus-Anbau und der Pfarrscheune ein weiteres Mauerstück im selben Stil erkennbar (heute nicht mehr vorhanden).

Wie die Befestigungsanlage nach der Fertigstellung, die mutmasslich 1707 (spätestens aber 1708) erfolgt ist, ausgesehen hat, zeigt die nachstehende Skizze. Auf dem aktuellen Plan der Amtlichen Vermessung ist sie in roter Farbe nachgezogen.


Wenn Meister nach der Natur gezeichnet hat, dann war im Jahre 1716 an der Südwestecke der Umfassungsmauer noch kein kommunales Gebäude angebaut. Spätestens Ende des 18. Jahrhunderts stand an diesem Eckpunkt des Kirchenbezirks das Schul-, Gemeinde- und Spritzenhaus, das 1799 abgebrannt ist und 1802 wieder aufgerichtet wurde. Seit 1857 steht an dessen Stelle das Alte Gemeindehaus (Assek.-Nr. 237, s. oben).

Wo sass der Zeichner?


Ist das, was wir auf der Tintenzeichnung sehen, nun eher zeichnerische Freiheit oder wirklich exakte Darstellung der Verhältnisse? Ich tendiere auf ersteres, denn wenn man die perspektivischen Strahlen einzeichnet (vgl. grüne Linien oben) dann gibt es sehr wohl einen Punkt, von dem aus man sowohl die Mauer zwischen Kirche und Pfarrscheune, wie die zwischen Pfarrhausanbau und Pfarrscheune sehen könnte. Auch die Schiessscharten der Pfarrscheune und die des heutigen Mauerstücks zwischen derselben und der Kirche sind in der gleichen Form ausgeführt, wie man heutzutage bei einem Augenschein feststellt.

Wenn Meister nicht allzu weit weg vom auf Papier zu bannenden Objekt stehen wollte, dann kann es gut so gewesen sein, dass der Baumbestand oder andere Gebäude im Bühl dem jungen Zeichner die Sicht verstellt haben und er dadurch von einem weniger optimalen Standort aus die richtige perspektivische Sicht sozusagen erspüren musste. Das gilt selbst dann, wenn er sich zum Zeichnen weit weg befand, auf dem auch heute beliebten Aussichtspunkt auf dem Wingert oberhalb der heutigen Neurebenstrasse (vgl Skizze unten).


Insgesamt ist das Ergebnis allerdings gar nicht so schlecht und durchaus nach der Natur geraten. Man vergleiche das Gesamtensemble bei Meister mit dem aus 2D-Kartendaten errechneten 3D-Modell von Swisstopo aus heutiger Zeit:


Das Tor aus dem 18. Jahrhundert auf einem Plan von 1838

Besonders markant auf Meisters Zeichnung ist die Südwestmauer, die heute nicht mehr existiert. Das Tor wurde nachweislich im Jahre 1838 abgerissen. [Wann die Stützmauer zwecks Friedhoferweiterung nach Südwesten erstellt wurde, ist zur Zeit noch nicht bekannt.]

Dieses Tor sieht bei Meister fast exakt gleich aus wie rund 120 Jahre später auf einer Aufnahme des Istzustandes vor der Schleifung des Tores (PLAN R 1193 unten):


Blatt 12 x 16,5 cm, Rechts beschnitten mit Textverlust, Mit Legende: a. die Kirch, b. Pfarrhaus, c. Wöschhaus, d. Scheüer. Meister, Johann Heinrich (1700-1781). Signatur: ZBZ GS PAS 4.34


St. (vermutlich: Stadler, Hans Konrad (1786-1867), Zimmermeister sowie Staatsbauinspektor des Kantons Zürich, in Zürich). Signatur: StAZH PLAN R 1193

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