Sonntag, 1. Dezember 2019

Unverständlicher Juristensprech, Anno 1884

Vor etwa zwei Wochen habe ich bereits aus einer Vorgängerzeitung des heutigen Thuner Tagblatts zitiert. Deren Redaktoren scheinen die Unterländer Zeitungen gelesen oder zumindest Korrespondenten gehabt zu haben, welche dies taten.

Vindikationen? Restitution? Ediktalladung? Litisdenunziation?

War es in WeiachBlog Nr. 1419 ein Inserat aus dem Bülach-Dielsdorfer Volksfreund (späteres Neues Bülacher Tagblatt), so soll es heute um einen Leser-Beitrag in der Bülach-Dielsdorfer Wochenzeitung gehen (heute: Zürcher Unterländer):

«Zürich. Ein Einsender der „Bül. Wochenztg." zieht gegen den Mißbrauch zu Felde, daß viele Gerichtskanzleien selbst auf dem Lande ihre Auskündigungen oft mit seltsamen, dem einfachen Manne unverständlichen lateinischen Schnörkeln verzieren. „Vor nicht gar langer Zeit kam ein Gemeindegenosse zu mir mit der Bitte, ihm folgende Stelle aus dem Erlaß einer Notariatskanzlei in's Deutsche zu übersetzen: „Für die von ihm angemeldeten Vindikationen ist Restitution ertheilt worden". Das veranlaßte mich, in solchen Publikationen nachzusehen, und zu meiner Verwunderung fanden sich da noch viele solcher Petrefakten, die den sämmtlichen Bauern von Batzenegg bis Weiach unverständlich bleiben, z. B. Ediktalladung, Litiganten, Litisdenunziation, Kridar ec. ec. Es wäre bald an der Zeit, deutsche Erlasse von diesen Ueberresten aus einer Periode traurigen Andenkens zu befreien" — und zwar nicht nur im Kt. Zürich, auch im Kt. Bern. Die Vindikationen und Manifestationen und Restitutionen dürften wohl verschwinden. Am besten wär's, wenn man auch die Liquidationen gründlich abschaffen könnte.»

Die Batzenegg ist eine Ortsgegend in der ehemaligen Gemeinde Sternenberg, an der Grenze zum Thurgau. Von Batzenegg bis Weiach bedeutet also quer durch den Kanton Zürich.

Und ich bin sicher, dass auch die Nichtjuristen unter den Lesern des WeiachBlog bei den meisten der obigen Fachbegriffe höchstens einen blassen Schimmer von deren Bedeutung haben.

Endlose Erwägungskaskaden heutiger Tage

Bevor man nun die Praxis vergangener Tage belächelt sei angemerkt:

1. Heute ist diese Krankheit in den Copy-und-Paste-Stuben der Fliessbandarbeiter des Rechts angekommen, juristischen Mitarbeitern von Staatsanwaltschaften, die sozusagen im Akkord Strafbefehle produzieren.

2. Auch heutige Bezirksräte und Vormundschaftsbehörden sind keineswegs davor gefeit, für den Laien kaum bis gar nicht verständliche Entscheide zu produzieren. Das kann man einem Blogbeitrag von Martin Steiger, Anwalt für Recht im digitalen Raum, entnehmen. Er zitiert aus einem Urteil des  Obergerichts des Kantons Zürich von 2012, das mehr als nur die Stirn gerunzelt hat:

«Der [..] Entscheid des Bezirksrates ist in einem einzigen Satz abgefasst, der sich über mehrere Seiten hinzieht. Die Amtssprache im Kanton Zürich ist Deutsch (Art. 48 KV), und die deutsche Sprache wird grundsätzlich in Hauptsätzen gesprochen und geschrieben. Die aus dem vorletzten Jahrhundert stammende Technik des "in der Erwägung dass..., dass ..." ist heute für den durchschnittlichen Leser und selbst für Rechtsmittelinstanzen nur noch schwer verständlich. Sie verleitet auch dazu, Banalitäten auszudrücken wie etwa die mitunter anzutreffende Floskel "nach Einsicht in die Akten ..." – in einem ordentlich formulierten Entscheid würde niemand schreiben: "Das Gericht hat Einsicht in die Akten genommen". Lange und komplizierte "dass..., dass..."- Entscheide kommen jedenfalls in die Nähe der ungenügenden Begründung, was eine Verletzung des rechtlichen Gehörs bedeutete (Tarkan Göksu, Dike-Kommentar ZPO [PrintAusgabe], Art. 53 N 24 ff.).»

Autsch.

Quellen

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