Sonntag, 31. März 2024

Auf einer Eierschale von Weyach über den Rhein gefahren

Weyacher Eierschalen spielten im letzten Zürcher Hexenprozess vor 323 Jahren (dem sogenannten Wasterkinger Fall) eine Statistenrolle. Ein Beitrag zum Ostersonntag.

Von nützlichen und schädlichen vergrabenen Eiern

Eier hatten schon immer etwas Magisches an sich. Schlüpft doch daraus – nach simplem Bebrüten – neues Leben. Kein Wunder also sind Eier auch Teil des Hexenglaubens. 

Der Winterthur Historiker und Kantonsschullehrer Patrick Hersperger schildert es so:

«Schon in vorchristlichen Kulturen wurden Eier eingefärbt. Das Ei ist ein uraltes mythologisches Symbol für die Entstehung der Welt, sowie allgemein für das Leben. Im Christentum steht es für die Auferstehung. Für die Menschen im Mittelalter war es zuerst ganz profan ein wichtiges Lebensmittel, das sie an Ostern, wenn die Fastenzeit zu Ende war, wieder essen durften. Sie brachten besonders die am Gründonnerstag gelegten Eier in die Messe und liessen sie vom Priester segnen. Diese lithurgische [sic!] Eierweihe, die im 12. Jahrhundert aufkam, hat verschiedene Volksbräuche wohl erst entstehen lassen. Die geweihten Eier wurden nämlich nicht alle verzehrt. [...] Da diesen Eiern eine besondere Kraft zugeschrieben wurde, hat man sie auch in Äckern vergraben, damit die Saat besser gedeihe. Das Ei wurde zudem als Unheil abwehrendes Mittel oder als Aphrodisiakum eingesetzt. Überliefert ist aus dem 16. Jahrhundert aber auch die Vorstellung, dass «Hexen» Schaden anrichten können, wenn sie ein Ei unter die Schwelle eines Hauses legen oder im Feld vergraben.» (Tagblatt der Stadt Zürich, 31. März 2010)

Wer im Hexenhammer blättert, dem ab 1486 in vielen Auflagen gedruckten Propagandawerk des Dominikaners Heinrich Kramer, der findet diese Eier-Bezüge im Zusammenhang mit Zauberei und Dämonen selbstverständlich auch dort. 

Das in Latein verfasste und somit primär an Intellektuelle und Priester gerichtete Werk wurde erst später ins Deutsche übertragen. Gut lesbar wurde es u.a. 1906 von J. W. R. Schmidt übersetzt und mit einem Kommentar versehen (PDF, 30.5 MB, 642 S.).

Eier ins Grab getan, verursachen Epilepsie

Kramer arbeitet intensiv mit Praxisbeispielen, nennt auch Orte und Namen mitten im deutschsprachigen Raum, die nachprüfbare Authentizität signalisieren und letztlich doch anekdotische Evidenz bleiben. Illustrieren lässt sich das anhand des nachstehenden Absatzes (Schmidt 1906, S. II, 89):

«Als in derselben Diözese endlich, und zwar im Gebiete des Schwarzwaldes, eine Hexe durch den Henker zur Strafe für einen von ihr angestifteten Brand von dem Fußboden auf den Holzstoß gehoben wurde, sagte sie: "Ich werde dir eine Belohnung geben", wobei sie ihm in das Gesicht hauchte: Sofort war er am ganzen Körper mit schauerlichem Aussatz geschlagen und überlebte sie danach um nur wenige Tage. Ihre schauderhaften Schandtaten werden der Kürze wegen weggelassen; und so könnten darüber noch andere, schier unzählige, aufgezählt werden. Denn wir haben öfters gefunden, daß sie Epilepsie oder fallende Krankheit gewissen Leuten vermittels Eiern angetan haben, die mit den Körpern von Verstorbenen, in die Gräber getan worden waren, besonders mit solchen Beerdigten, die aus ihrer Sekte stammen, und die sie unter anderen Zeremonien, die nicht aufgezählt zu werden brauchen, jemandem im Tranke oder im Essen reichen.»

Mittels verhexter Eier in einen Esel verwandelt

Auf den Seiten II, 153-156 (wieder nach der Ausgabe 1906 v. Schmidt) wird ausführlich die Verhexung eines jungen Matrosen auf Landgang in einen Esel beschrieben. Sie soll durch eine zypriotische Zauberin aus Salamis (bei Famagusta, Türkische Republik Nordzypern) bewirkt worden sein, die ihm (wohl gekochte) Eier als Proviant mitgegeben habe. Nachdem er diese noch an Land gegessen habe, sei ihm wunderlich geworden. Seine eigenen Schiffskameraden hätten ihn danach – da in Eselsgestalt verwandelt und des Redens nicht mehr fähig – nicht erkannt und ihn (der natürlich unbedingt an Bord wollte) vom Schiff geprügelt. Deshalb sei ihm schliesslich nichts anderes übriggeblieben, als der Hexe drei Jahre als Lasttier zu dienen, bis seine Rettung durch genuesische Kaufleute erfolgen konnte. Diese hätten das Verhalten des Esels vor einer Kirche richtig gedeutet, sodass die Hexe habe verhaftet und der Fluch über den Matrosen aufgehoben werden können.

Transportvehikel zum Tanzplatz bei Berwangen

Vielleicht hat auch eine hiesige Hexe ein solches Ei gekocht und dann die Schale zweckentfremdet. So wurde bei den Wasterkinger Hexenprozessen im April 1701 die noch als Kind getätigte Aussage einer Beschuldigten protokolliert, eine Verwandte aus Weyach sei in einer Eierschale über Rhein nach Berwangen zum Tanz gefahren (Acta ethnographica Academiae Scientiarum Hungaricae, 1990, S. 448).

Diese Ortschaft liegt im heutigen Baden-Württemberg, nördlich von Wil und Rafz, sowie südlich des Schaffhauser Klettgaus. Zu Fuss ist man von Weiach aus mindestens drei Stunden unterwegs bis dorthin. Heisst also, dass diese Weyacher Hexe eine Eierschale als fliegenden Teppich genutzt hat, denn nur um damit über den Fluss zu setzen wäre die magische Schale schon etwas zu schade, oder? Zumal, wenn in Berwangen ein Tanz auf einem – horribile dictu – Hexensabbat ansteht. Da braucht es standesgemässere Transportmittel.

Wir haben da also eine weitere der Zauberei verdächtige Weiacherin (vgl. u.a. Weiacher Geschichte(n) Nr. 99). Sie soll die Base der Beschuldigten sein, die diese Aussage an einer Liechtstubeten im Alter von 10 Jahren gemacht hatte. Wahrscheinlich ist damit (wie früher eher üblich) eine Tante gemeint (d.h. eine Schwester der eigenen Mutter bzw. des Vaters) und nicht eine Cousine. Mutmasslich handelt es sich bei dieser Base um Verena Rutschmann, verheiratet 1658 mit Jakob Rüdlinger in Weyach (StAZH E III 136.1, EDB 219).

Erstaunlich resiliente Gesellschaft

Wenn man solche, im Hexenhammer über viele Seiten ausgebreitete Beschreibungen von Horrorgeschichten liest, muss man sich fast wundern. Wundern darüber, dass nicht – wie seit den 1970ern v.a. in feministisch-woken Kreisen immer wieder fälschlicherweise kolportiert wird – ganze Dörfer auf dem Scheiterhaufen gelandet sind. Und daraus abgeleitete Zahlen, wonach Millionen Hexen allein in Europa verbrannt worden sein sollen, plausibel erscheinen. Denn da waren ja sehr viele Menschen potentiell nur schon durch Verwandtschaft oder sonstigen direkten Umgang mit einer Hexe schwer kontaminiert. Kontaktschuld in ihrer reinsten Form.

Dass es nicht so weit gekommen ist, verdankt die damalige Zeit auch besonneneren Amtsträgern, wie dem Bischof von Brixen, der nach einer Untersuchung besagten Dominikaner (und damit Inquisitionsspezialisten) Heinrich Kramer aus der Stadt Innsbruck und dem Land Tirol hinauswerfen liess, als er dort im grossen Stil seine Hexenverfolgungskampagne ausrollen wollte.

Auch in der Stadt Zürich waren die Dominikaner schon ihres Inquisitionseifers wegen ziemlich verhasst, was erklären könnte, weshalb aus den Reihen der Zürcher Bürger über all die Jahrhunderte nur eine einzige Frau als Hexe hingerichtet wurde. Alle anderen Opfer (rund 80) stammten aus den Untertanengebieten auf der Landschaft.

Quellen und Literatur

  • Institoris, H.: Der Hexenhammer (Malleus maleficarum). Aus dem Lateinischen übertragen und eingeleitet von J. W. R. Schmidt, 1906. Teil I, Teil II, Teil III.
  • Verwandtschaftsbeziehungen der Angeklagten des Wasterkinger Hexenprozesses von 1701. In: Neukom, Th; Stühlinger, P.; Voegeli, H.: Wasterkingen – ein Dorf und seine Grenzen. Chronos Verlag, Zürich 2002 – S. 71.
  • Brandenberger, U.: «Mit güete ald der marter». Die Weyacher Hexenprozesse von 1539 und 1589. Weiacher Geschichte(n) Nr. 99. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, Februar 2008.
  • Hersperger, P: Kirche, Magie und ›Aberglaube‹. »Superstitio« in der Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts. Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht, Bd. 31. Böhlau Verlag, Köln 2010.
  • Strobel, J.: «Hexen konnten mit Eiern Schaden anrichten». Interview mit Patrick Hersperger. In: Tagblatt der Stadt Zürich, 31. März 2010 – S. 29.
  • Brandenberger, U. (ed.): Die Weiacher Hexenprotokolle. Eine Zusammenstellung der verfügbaren Informationen. Wiachiana Doku Bd. 1 -- Fünfte, erw. u. korr. Aufl., Oktober 2023 (PDF, 3.76 MB).

Samstag, 30. März 2024

«Arbeitsellig»? Erläuterung eines verlorenen Begriffs

Dieser Herr hier, Claude-Louis-Hector de Villars (1653-1734), Marschall von Frankreich, verbreitete im Frühjahr 1703 Angst und Schrecken. Da stiess er im Rahmen des Spanischen Erbfolgekrieges mit 35'000 Mann durch den Schwarzwald vor, wobei etliche Städtchen und Dörfer verwüstet zurückblieben. 
Gemälde von Hyacinthe Rigaud (31. Dezember 1703). Bildquelle: Wikimedia 

Im Mai 1703 zogen Frankreich und Kurbayern im Raum Tuttlingen Truppen zusammen. Es gingen Gerüchte, dass sich dieses Heer auch gegen die Eidgenossenschaft wenden könnte. Entsprechend gross war die Wachsamkeit. 

Selbst harmlose Handelsreisende französischer Zunge konnten da bei den Weiachern schon Argwohn wecken. Besonders an einem Tag, wo alle militärdiensttauglichen Männer des Regensberger Quartiers zur Hauptmusterung aufgeboten und daher ortsabwesend waren.

Ein junger arbeitselliger Knab

Zu diesem «Blinden Lärmen» (falschen Alarm) von 1703 hat der Artikel Weiacher Geschichte(n) Nr. 56 den vollen Wortlaut des Einvernahmeprotokolls transkribiert und publiziert. Bei einer dieser Aussagen kommt das früher in breiter Anwendung stehende, heute aber überhaupt nicht mehr gebräuchliche Adjektiv «arbeitselig» vor:

«Heinrich Meÿer von Weÿach ein junger arbeitselliger Knab berichtet; Er sÿe in rüben gseÿn und haben alle Weiber im Dorf ihme gerüft, auf ein roß aufenzehrt und befohlen zureiten, bis er ein Mann antrefe, zu dem solle er sagen, der Frantzoß seÿe zu Keyßerstuel.» (Cantzley der Stadt Zürich, 1703)

Daraus wurde in einem militärgeschichtlichen Werk eine Passage, laut der sich die Weiacherinnen «alsbald mit Mistgabeln bewaffnet, auf der Strasse gegen Kaiserstuhl postierten, „einen jungen arbeitstelligen“ Knaben auf ein Ross hinaufsetzten und ihm befahlen, in die benachbarten Dörfer Stadel und Steinmaur zu reiten, sowie den Wächter auf der Lägernhochwacht zu benachrichtigen.» (G. J. Peter, 1907)

Was ist damit gemeint? Dass der Knabe ganz verzückt war, arbeiten zu dürfen? Wohl eher nicht. Dass er «anstellig» war (wie man es heute noch ab und zu in ländlichen Gegenden hört), also aufgeweckt und gut einzusetzen, wie das bei Peter anklingt?

Ein verrückt gewordener Obervogt

Den richtigen Hinweis habe ich jüngst in einem Artikel der Historikerin Aline Steinbrecher im Zürcher Taschenbuch 1999 gefunden. Da klagte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Ehefrau des Isaak Keller, seines Amtes enthobenen Obervogts von Hegi (Teil der Landvogtei Kyburg), in einer Eingabe an die Zürcher Regierung, ihr Mann sei «arbeitselig» und «verkehrter Sinnen» (vgl. ZTB 1999, S. 337). Damit kommen wir der Sache schon wesentlich näher.

In der Fussnote 21 schreibt Steinbrecher: «Nach dem Idiotikon kann dieses Adjektiv die Begriffe arm, armselig, geplagt, unglücklich, elend im moralischen wie theologischen Sinne, also verdorben, verkommen, verblendet, wie auch gebrechlich, verkrüppelt, krank oder in geistiger Hinsicht untüchtig bedeuten, idiotikon 1,424f.»

Bei dieser Quelle handelt sich um das wichtigste und umfangreichste Kompendium unserer Muttersprache schlechthin. «Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache (1881 ff.)» lautet die offizielle Kurzzitierung. Und im Gegensatz zu 1999 haben wir heute die Möglichkeit, im Volltext dieses linguistischen Dschungels zu suchen, müssen somit nicht mehr zwingend Sprachwissenschaften studiert haben.

Militärdienstuntauglich, weil Invalider

Der offizielle elektronische Eintrag hilft weiter (und bringt viele historische Belege, die den Sprachgebrauch lebendig vor Augen führen, es lohnt sich also, den nachstehenden Link anzuklicken):

arbe(i)tselig 1,424  [gedruckt 1882]

«1. voll Arbeit, Mühe, äusserer Not und Seelenschmerz (in subj. u. obj. S.), arm, armselig, geplagt, unglücklich

2. elend im moralischen und theologischen S., verdorben, verkommen, verblendet

3. gebrechlich, verkrüppelt, krank, daher arbeitsuntauglich; auch in geistiger Beziehung, untüchtig.»

Im Fall von Heinrich Meyer, der am Tag der militärischen Musterung in Weiach blieb, muss man wohl vom zweiten Wort des dritten Punktes ausgehen. Er scheint nicht geistig behindert gewesen zu sein, zumindest wird dies im Protokoll nicht so zum Ausdruck gebracht. 

Seine Schilderung, die Weiacher Frauen hätten ihn auf ein Pferd «aufenzehrt», also mit vereinten Kräften in den Sattel gehievt, zeigt, dass er dazu selber körperlich nicht in der Lage gewesen sein dürfte. Nach heutigen Kriterien würde man ihn also wohl mit hoher Sicherheit als «militärdienstuntauglich» einstufen. 

Aber die Frauen trauten ihm dann doch zu, dass er sich im Sattel halten und bei einem Dorfwächter oder Angehörigen von einer der Hochwacht-Besatzungen Meldung machen könne. Als körperlich Eingeschränkter schien er ihnen als Meldereiter nützlicher zu sein, als – wie sie selber – mit einer Mistgabel auf der Strasse stehend.

Quelle und Literatur

  • Cantzley der Stadt Zürich: „Aussag etlicher persohnen wegen des jüngsthin zu Weyach und Kaiserstuhl entstandenen blinden lermens [...].“ Einvernahmeprotokoll. Original vom 22.5.1703. Signatur: StAZH A 29.4 [Kriegssachen und Reissachen, Allgemeines, 1691-1710].
  • Peter, G. J.: Ein Beitrag zur Geschichte des zürcherischen Wehrwesens im XVII. Jahrhundert. Diss. Univ. Zürich. Zürich, 1907 – S. 63/64.
  • Steinbrecher, A.: Schicksal eines psychisch Kranken im 17. Jahrhundert. Ein Zürcher Obervogt verliert den Verstand. In: Zürcher Taschenbuch 1999 – S. 331-361.
  • Brandenberger, U.: «Blinder Lärmen». Wie die Weiacherinnen 1703 gegen die Franzosen kämpfen wollten. Weiacher Geschichte(n) Nr. 56. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, Juli 2004 – S. 11-16 (hier: S. 151 der Gesamtausgabe).

Freitag, 29. März 2024

Der Gekreuzigte auf der grossen Weiacher Glocke

Haben Sie schon einmal einen rosaroten Elefanten übersehen? Einen, den jedes Kind sofort sehen würde? Nun, das ist dem Schreibenden mit der Mittagsglocke so ergangen. Es kommt nämlich sehr darauf an, mit welcher Fragestellung man an eine Sache herangeht. Denn: Alles, was nicht zur Frage passt, wird sozusagen automatisch herausgefiltert.

Der Schlüssel heisst «Fokussierung». Darauf wurde man in seiner schulischen Laufbahn schliesslich trainiert. Die Kehrseite der Medaille: für nicht in der Fragestellung Enthaltenes hat man einen blinden Fleck. Und es ist dann nicht zwingend böser Wille, wenn jemand behauptet, da gebe es keinen Elefanten. Höchstens eine naive Art von Dummheit. Oder Unwissen darüber, wie das menschliche Wahrnehmungsvermögen halt nun einmal funktioniert. Wer sich in diesem Bereiche selber testen will, dem seien die Videos von Daniel J. Simons in den Literaturangaben unten empfohlen.

Erst beim dritten Mal erkannt

Meine Fragestellung war im Sommer 2015: «Was steht auf den Weiacher Glocken wirklich drauf?» (WeiachBlog Nr. 1217), und zwar deshalb, weil es da in der gedruckten Literatur unterschiedliche Fassungen gibt. Der Elefant in diesem Fall ist ein nicht einmal so kleines Kruzifix, das mittig oberhalb des Textes auf der Mittagsglocke prangt. Eigentlich unübersehbar.

Ein zweites Mal ist mir dieser Elefant im September 2020 sozusagen durchs Blickfeld marschiert. Ohne als solcher erkannt zu werden. In dem Salomon Vögelin zugeschriebenen «Gloken-Buch» ist nämlich zu lesen (vgl. Abbildung in WeiachBlog Nr. 1585): «Auf der einen Seite ein Crucifix über der Inschrift  "Wo immer wird mein Ton erschallen [...]»  (ZBZ Ms. J 432, S. 296). Diesen Satz habe ich abgeschrieben, ohne dass mir etwas Besonderes aufgefallen wäre.

Erst als ich im Juni 2021 über e-newspaperarchives.ch auf einen Beitrag aus den Neuen Zürcher Nachrichten (NZN) zur Karwoche 1952 gestossen bin, da war der Elefant dann auch in meiner Wahrnehmung unübersehbar vorhanden. Diese ab 1904 erscheinende Tageszeitung (eingestellt am 30. April 1991) galt nämlich als Sprachrohr der katholischen Diaspora im Kanton Zürich. Und es ist gerade dieser spezifisch katholische Blickwinkel, der hier entscheidend ist.

Du sollst Dir vom Gekreuzigten kein Bildnis machen

Im zweiten Teil eines NZN-Artikels mit dem Titel «Alte Passionsglocken in Stadt und Landschaft Zürich» wird unter dem Rubrum «Passionsbilder. Christus am Kreuz» über dieses im reformierten Zürich seltene Motiv berichtet:

«In Fehraltorf waren auf der grössten (bis 1911 verwendeten) Glocke von 1836 neben der Geburt Christi und dem Guten Hirten, der Auferstehung und der Himmelfahrt Christi auch die Kreuzigung (anscheinend als Szene) dargestellt. 

Ein Bild des Gekreuzigten war ebenfalls auf der 1. Glocke, der Mittagsglocke, des neuen Geläutes von Weiach aus dem Jahre 1843, gegossen von dem bedeutenden schweizerischen Glockengiesser seiner Zeit, von Jakob Keller in Unterstrass (dessen bis vor wenigen Jahren noch bestehende Giesserei man an den im Freien aufgestellten Glocken an der Schaffhauserstrasse, bei der heutigen Abzweigung Pflugstrasse, erkennen konnte). 

Die beiden letztgenannten Darstellungen des Gekreuzigten haben noch spezielles Interesse, da sie die im nachreformatorischen Zürichbiet streng befolgte Vermeidung der bildlichen Darstellung des Gekreuzigten durchbrechen.»

Wieso ausgerechnet bei uns?

Der letzte Abschnitt erklärt nun auch, weshalb ich oben von einem Elefanten, noch dazu einem rosaroten Elefanten schwadroniere. Denn dass dieses selten verwendete Symbol ausgerechnet auf einer Weiacher Glocke zu finden ist, das ist eine Sensation. 

Da erheben sich Fragen, wie:

Wer hat das entschieden? Die Kirchenpflege? Der damalige Pfarrer im Alleingang? Was waren die Motive der Entscheidungsträger? Pietistische, ohne Rücksicht auf die zwinglianisch-staatskirchliche Dogmatik im Umgang mit Kruzifixen?

Ist es gar einem Irrtum der Glockengiesserei zu verdanken und das Kruzifix wäre eigentlich nur für Geläute vorgesehen gewesen, die für katholische Kirchgemeinden bestimmt waren?

Und wieso die Vergangenheitsform? Kann es sein, dass man dieses Kruzifix nachträglich von der Glocke sozusagen abgeflext hat?

Nur die letzte Frage ist bis dato beantwortet: Das Kruzifix ist bis heute auf der grossen Glocke präsent.

Das wäre er also, der Gekreuzigte. Nur: daran konnte ich mich nicht erinnern, obwohl ich ja vor Jahren anlässlich des 300-Jahr-Jubiläums eigens in den Glockenstuhl gestiegen bin, um mir die Originale der Glockensprüche ansehen zu können. 

Diesmal hat sich alt Gemeindepräsident Gregor Trachsel die Mühe gemacht, für mich in den Dachreiter hochzusteigen. Obige fotografische Aufnahme sei ihm daher herzlich verdankt. Sie führt den Beweis: Das Glockenbuch und die katholische Tageszeitung sagen die Wahrheit: Ecce crucifixum.

Vögelins Glockenbuch als Quelle

Der Autor des Artikels wird nur mit den Initialen «R.H.» identifiziert. Laut der Zürcher Bibliographie ist Rudolf Herzog gemeint, der im selben Jahr 1952 auch Artikel über Passionsglocken im Thurgau veröffentlicht hat.

Autor R.H. hat jedenfalls die Information über das Weiacher Glocken-Kruzifix offensichtlich aus derselben Quelle wie ich: einem der Glockenbücher in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich. 

Im Teil I seines Beitrags wird nämlich erwähnt, der Artikel sei u.a. «auf Grund eines handschriftlichen Verzeichnisses, um 1860 von Salomon Vögelin erstellt,» verfasst worden.

Im Dachreiter schwingt die Ökumene mit

Weiach hat 1843 also sozusagen im Geheimen ein Stück Katholizismus im Glockenstuhl fix eingebaut. Wer hätte das gedacht, bei diesem baulich doch sonst so streng zwinglianisch geplanten und konstruierten Kirchenbau? Vielleicht ist es ja eine Erinnerung an die vorreformatorische Friedensglocke, deren Metall in unsere drei heutigen Glocken im wahrsten Sinne des Wortes eingeflossen ist (vgl. WeiachBlog Nr. 1581). 

Quellen und Literatur

  • Herzog, R.: Alte Passionsglocken in Stadt und Landschaft Zürich. In: Neue Zürcher Nachrichten; Teil I: Nr. 85, 9. April 1952, 3. Blatt, S. 1. -- Teil II: Nr. 86, 10. April 1952, 3. Blatt, S. 1.
  • Brüllmann, F.: Thurgauische Geschichtsliteratur 1952. In: Thurgauische Beiträge zur vaterländischen Geschichte, Band 90 (1953) – S. 144.
  • Sieber, P.: Bibliographie der Geschichte, Landes- und Volkskunde von Stadt und Kanton Zürich, 1. Juni 1951 bis 31. Mai 1952. In: Zürcher Taschenbuch, Band 73 (1953) – S. 207.
  • Simons, Daniel J.: The Monkey Business Illusion (1:41) mit deutschen Untertiteln; Deutschsprachige Adaption mit weitergehenden Fragen: Wahrnehmung und die Implikationen (2:12).
  • Brandenberger, U.: Was auf den Weiacher Glocken wirklich draufsteht. WeiachBlog Nr. 1217 v. 22. Juni 2015.
  • Brandenberger, U.: Der mittelalterliche Friedenswunsch klingt auch heute mit. WeiachBlog Nr. 1581 v. 16. September 2020.
  • Brandenberger, U.: Glockensprüche 1843: So viele Varianten wie Chronisten. WeiachBlog Nr. 1585 v. 22. September 2020.
  • Papis, A.: Mobiles Kreuz. Website Reformierte Kirche Sihltal (Adliswil - Langnau am Albis). o.J. [Dieser Beitrag zeigt im Abschnitt «Reformierte Skepsis» auf, dass Luther mit Kruzifixen viel weniger Probleme hatte als Zwingli. Dementsprechend ist die Kreuzsymbolik in lutheranischen Kirchen auch häufiger anzutreffen].

Donnerstag, 28. März 2024

Zweierlei «Amt Kaiserstuhl». Zu welchem gehörte Weyach?

«Leistungen und Abgaben an das bischöfliche Amt Kaiserstuhl». So lautet der Titel der Nummer 191 im Rechtsquellenband über die zürcherische Obervogtei Neuamt, zu der Weiach von 1442 bis 1798 gehört hat. Wenn man an eine Organisationsstruktur Sach- und Geldleistungen abführen muss, dann gehört man in bestimmter Hinsicht dort auch dazu, oder? So war das tatsächlich. 

Weiach musste sich gleich mit mehreren Obervögten herumschlagen: den zwei Zürcher Ratsherren, die gerade Neuamtsobervögte waren und die Hochgerichtsbarkeit vertraten. Und mit zwei weiteren Statthaltern, nämlich dem Obervogt des fürstbischöflich-konstanzischen Amts Kaiserstuhl sowie (bis 1605) dem Obervogt der Herrschaft Schwarzwasserstelz, die je zur Hälfte die Niedergerichtsbarkeit zu Weyach unter sich hatten und damit das Dorfgericht als unterste juristische Instanz auf dem Gebiet der heutigen Gemeinde Weiach.

Nun gab es aber dieses «Amt Kaiserstuhl» gleich zweimal, wie man dem Historischen Lexikon der Schweiz (HLS) im Lemma Kaiserstuhl entnehmen kann. Auch das hat wieder mit den unterschiedlichen Sichtweisen von Herrschaftsträgern zu tun, deren Interessen sich an unserer Westgrenze in mannigfaltiger Weise ineinander verzahnt und verkeilt hatten. 

Fürstbischöfliches Amt und Eidgenössisches Amt

Die Autorin des HLS-Lemmas, Franziska Wenzinger Plüss, schreibt:

«Das ältere bischöflich-konstanzische Amt Kaiserstuhl, auch als Obervogtei oder Vogtei Rötelen bezeichnet, umfasste die ab 1294 vom Schloss aus verwalteten Ortschaften und niederen Gerichte in Kaiserstuhl, Hohentengen, Herdern und Lienheim (Letzteres hälftig bis 1540 mit der Burg Weisswasserstelz Lehen des Klosters Reichenau) sowie in Weiach (1295). Die Orte waren auf drei Hochgerichte aufgeteilt, nämlich ab dem 15. Jahrhundert auf die eidgenössische Grafschaft Baden, auf den Klettgau der Grafen von Sulz und auf das zürcherische Neuamt. 1798 wurde das Amt aufgehoben.»

Und just diese Dreiteilung führte nach der durch König Sigismund angestossenen Vertreibung der Habsburger aus ihren aargauischen Stammlanden (vgl. WeiachBlog Nr. 2034) zur Bildung des zweiten Gebildes gleichen Namens:

«Das jüngere Amt Kaiserstuhl gehörte zur Grafschaft Baden. Zu ihm zählten die 1415 nicht eroberten bischöflich-konstanzischen Gerichtsherrschaften Kaiserstuhl ohne Weiach und Schwarzwasserstelz (Fisibach). Abgeleitet aus dem bis dahin habsburgischen hohen Gericht setzten die Eidgenossen in den Verträgen von 1450, 1520 und 1578 gegen den Willen des Bischofs linksrheinisch alle landesherrlichen Rechte durch, hinzu kam in den rechtsrheinischen, zur Neutralitätszone erklärten Dörfern das Mannschaftsrecht.»

Diese Art von Herrschaft rein hochgerichtlicher Art nannte man in Baden Äusseres Amt. Denselben Status hatten sowohl das Amt Klingnau (ebenfalls fürstbischöflich-konstanzisch) wie das Amt Zurzach.

Schutzbrief in Form einer Tafel

Die erwähnte Neutralitätszone umfasste faktisch die fürstbischöflichen Gebiete nördlich des Rheins, namentlich Hohentengen, aber auch Herdern, Lienheim und wohl auch Bergöschingen, wo die Eidgenossen in Krisenzeiten eine sog. Salva Quardia-Stele aufpflanzten und damit klarmachten, dass, wer in diese Gebiete eindringt und plündert, es mit den Eidgenossen zu tun bekommt (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 87, S. 321).

Reichsboden und Schweizerboden

Linksrheinisch hiess ab 1499 de facto und ab 1648 de jure, dass es eidgenössischer Boden war, rechtsrheinisch (in Fliessrichtung gesehen) lag an unserem Abschnitt des Rheins Reichsboden, also Gebiete, die beim Heiligen Römischen Reich deutscher Nation geblieben waren.

Was wir hier sehen, ist ein Ergebnis der sog. Territorialisierung. Zu Zeiten des alten Hochadels (in Weiach beispielsweise die Freiherren von Wart) waren Menschen und Rechtsverhältnisse nach persönlichen Loyalitäten und Abhängigkeiten organisiert worden. Das änderte sich mit dem Ende des Mittelalters immer stärker, weil die Landesherren (d.h. die Hochgerichtsinhaber) möglichst viele Rechte in einer Hand bündeln wollten. Was natürlich zu entsprechenden Konflikten führen musste.

Dass die eidgenössischen Stände, die sich die Gemeine Herrschaft Baden teilten, dieses oben erwähnte jüngere Amt Kaiserstuhl festigen wollten, hat auch mit dem Expansionsstreben der Zürcher zu tun. Nach der pfandweisen Übernahme der Grafschaft Kyburg (und damit von Weiach) im Jahre 1424 konnten sie sich in einige Angelegenheiten von Kaiserstuhl einmischen (z.B. Erbschaften bestimmter Kategorien von Einwohnern beanspruchen). 1471 ging Zürich sogar so weit, die hochgerichtlichen Rechte bis an den Tägerbach (weit über das Gebiet von Kaiserstuhl und Fisibach hinaus!) für sich zu reklamieren, scheiterte aber mangels Beweismitteln mit diesem Ansinnen (vgl. den Schiedsspruch vom 29. Oktober 1471, RQNA Nr. 6).

Ein «Amt Rötteln» als Reaktion auf eidgenössische Begehrlichkeiten?

In jüngeren Publikationen aus Baden-Württemberg findet man den Begriff «Amt Rötteln», so u.a. beim Hohentengener Ortshistoriker Herbert Fuchs (1932-2021).

Wenzinger Plüss erwähnt jedoch kein (separates) Amt Rötteln. Das ist nachvollziehbar, denn selbst der fürstbischöflich-konstanzische Obervogt Johann Franz Freiherr von Landsee, der seinen Sitz auf dem Schloss «Röttelen, oder Rothwasserstelz» am nördlichen Brückenkopf bei Kaiserstuhl hatte, bezeichnet 1778 in seinem Enchiridion Helveticum Constantiae Episcopalis die Gesamtheit aller fürstbischöflichen Gebiete um Kaiserstuhl, ob auf Reichs- oder Schweizerboden, als zum Amt Kaiserstuhl gehörig (vgl. S. 48-49), so explizit für Lienheim. 

Thengen, Herderen, Lienheim und der Thürner-Hof [950 m NNW Weisswasserstelz] sowie sein Amtssitz Schloss Rötteln gehörten rechtsufrig laut von Landsee zusammen: «Und dieser ganze Bezirk wird die Herrschaft Röttelen genennet» (S. 49). Das Schloss Weisswasserstelz (auch Hohenwasserstelzen genannt) zählte nicht direkt zu dieser Herrschaft (da über Jahrhunderte hinweg an Adelige verliehen), wurde aber nach dem Heimfall ab 1754 «von dem fürstlichen Obervogtey-Amt Kaiserstuhl besorget» (S. 50). 

Das Historische Ortslexikon von Landeskunde entdecken Online (LEO-BW) erweckt aber (wohl abgeleitet vom kurzlebigen Stabsamt Rötteln, 1803-1807) im Abschnitt Geschichte des Lemmas «Rötteln, Schloss - Wohnplatz» just diesen Eindruck, es habe eine offizielle herrschaftstechnische Aufteilung nach Hochgerichtsbezirk gegeben (vgl. den unterstrichenen Abschnitt):

«1185 de Rotenlein. Adel 1185-1396, wohl am Zweig der Familie von Regensberg. Turmburg, seit dem 14. Jahrhundert im Besitz des Konstanzer Bischofs. Bau des 12./13. Jahrhunderts, im 15. und 18. Jahrhundert um zwei Geschosse bzw. eines erhöht, zuletzt 1978/79 Turm renoviert. Sitz eines bischöflichen Obervogtes seit Ende des 15. Jahrhunderts, zuständig für Lienheim, Hohentengen, Herdern, Türnenhof, Weißwasserstelz und Gugenmühle. Ständige Streitigkeiten mit den Grafen von Sulz wegen der Gerichtsrechte, 1486 und zuletzt 1683 wird diesen lediglich das Blutgericht zugestanden. Mannschaftsrecht im 15./16. Jahrhundert von den Eidgenossen angesprochen. Rötteln bildete nach 1803 ein Stabsamt, dem Hohentengen, Herdern und Lienheim samt den zugehörigen Höfen angehörten. Dieses unterstand 1807 dem Oberamt Waldshut. 1813 gingen die zugehörigen Orte zum Amt Jestetten über, mit diesem endgültig 1872 zum Bezirksamt/1936 Landkreis Waldshut.»

Interessanterweise erwähnen weder von Landsee noch LEO-BW den Weiler Bergöschingen, was die Frage aufwirft, ob er nur vergessen ging oder tatsächlich nicht zum fürstbischöflichen Gebiet gehört hat. In letztere Richtung tendiert Kläui 1955 (Aargauer Urkunden XIII, S. 7 i.V.m. Nr. 444), wo ein Hof an diesem Ort als Lehen des Klosters Säckingen erscheint und weitere Urkunden zeigen, dass Handänderungen im Zusammenhang mit Bergöschinger Gütern vor dem Sulzischen Dorfgericht in Stetten gefertigt werden mussten. Anderer Meinung wäre dann der Historische Atlas von Baden-Württemberg mit der Karte 6.13, Herrschaftsgebiete und Ämtergliederung in Südwestdeutschland 1790, wo eine von sulzischem Gebiet umgebene fürstbischöfliche Exklave Bergöschingen eingezeichnet ist. 

Unbeugsam der Gewalt des Stärkeren widerstehen

Für die fürstbischöfliche Verwaltung gab es aber offiziell keine gesonderten Bereiche, die man mit den Begrifflichkeiten «Obervogtei Kaiserstuhl» für den auf Schweizerboden befindlichen Teil des Kaiserstuhler Efadens samt Fisibach, bzw. «Obervogtei Rötteln» für den auf Reichsboden befindlichen Teil (inkl. den dem Spital Kaiserstuhl gehörenden Thürner-Hof) hätte belegen können. Es durfte sie nicht geben. Nur ein Amt Kaiserstuhl mit einem Obervogt, der seinen Sitz auf Rötteln hat.

Alles andere wäre auch völlig widersinnig gewesen, angesichts des jahrhundertelangen Kampfes gegen die Versuche sowohl der Eidgenossen (Grafschaft Baden) als auch der Grafen von Sulz (Landgrafschaft Klettgau) sich Rechte im bischöflichen Amt Kaiserstuhl unter den Nagel zu reissen. Eine allzu offensichtliche Aufteilung müsste geradezu als Unterwerfungsgeste bezeichnet werden. So tief wollte der Fürstbischof bei aller faktischen Machtlosigkeit dann doch nicht sinken. Die Realität war bitter genug, wie man dem Enchiridion entnehmen kann:

«Die Appellationen gehören, und giengen ehedeme von denen Gerichten Schwarzwasserstelzen, und Visibach an das fürstliche Hochstift Constanz, vor wenigen Jahren aber hat der baadische Landvogt, Ludwig von Graffenried, selbige samt dem Bereinigungs Recht an sich gerissen, dagegen zwar das fürstl. Hochstift protestirt, und die nöthige Vorstellung bey denen löbl. Ständen gemacht, jedoch diese Rechte bis dahin noch nicht zuruck bekommen hat.» (S. 48)

Dienstag, 26. März 2024

Sie halten Nutztiere, haben aber nicht für ein einziges Futter!

«Weiach war eine arme Gemeinde», stellte Thomas Weibel 1995 in seiner Kurzbeschreibung fest. Und er erläutert auch, wie er zu dieser Einschätzung kommt: 

«1789 konnte nur noch der Müller sein Land mit einem ganzen Zug bestellen [Anm-488]. Viele Einwohner hielten Vieh, ohne über das hiezu notwendige Wiesland zu verfügen [Anm-489].»  Der Müller, das war damals der zürcherische Untervogt Bersinger, der bei weitem wohlhabendste Weiacher.

Martin Illi, der Verfasser des Eintrags Weiach im Historischen Lexikon der Schweiz, äusserte sich 2015 noch deutlicher:

«1590 verfügten zwei Haushalte über je zwei Gespanne, elf über eines und vier über ein halbes, 48 Haushalte hatten keine Zugtiere; 1789 besass dagegen einzig der Müller ein ganzes Gespann – dies deutet auf einen Verarmungsprozess hin.»

Wenn sogar der Pfarrer findet, seine Schäfchen sollten auswandern

Die Zürcher Obrigkeit sah es zwar im 17. und 18. Jahrhundert gar nicht gern, wenn ihre Staatsangehörigen den Beschluss gefasst hatten, auszuwandern und diesen dann in die Tat umsetzten. 

Wenn man allerdings berücksichtigt, dass unser Gemeinwesen zwar über viel Gemeindewald verfügte (und bis heute verfügt), jedoch im Verhältnis zur damaligen Einwohnerzahl viel zu wenig landwirtschaftliche Fläche bieten konnte, dann verwundert es nicht, dass viele mit den Füssen abstimmten. Nicht nur hiesige Handwerker, die sich mit den in ausserlandwirtschaftlichen Gewerben durch die städtische Zunftordnung massiv eingeschränkten Entfaltungsmöglichkeiten nicht abfinden wollten. Auch Landwirte samt Familien verliessen dauerhaft ihre Heimat.

Wieso auch nicht? Wenn selbst ihr Pfarrer Johann Rudolf Wolf seine durch die Auswanderungsbegeisterung ihrer Untertanen aufgeschreckten Vorgesetzten in der Stadt Zürich (Neuamtsobervögte und Ratsherren) darauf hinwies, dass im Jahre 1735 «aus diser ursach mehrere weggehen könten und soltend»! (Vgl. WeiachBlog Nr. 2056, letzter Abschnitt; sowie WeiachBlog Nr. 156 über die sog. Rabies Carolinae)

Wir sollten vielleicht Grenzen setzen...

Am grundsätzlichen Problem, dass sich in Weiach viel zu viele Kleinbauernfamilien über Wasser zu halten versuchten, hatte sich auch einige Jahrzehnte später nicht viel verändert, wie Johann Franz Freiherr von Landsee, der fürstbischöfliche Obervogt auf Schloss Rötteln im Jahre 1782 feststellte: 

«Es gibt bauren zu Weyach, die 3 ‑ 4 und mehr stuckh vich an küeh, kälber, geissen etc. halten und nicht für eines, sie zu ernähren, futter haben»

Daher überlegte er, Vorschriften einzuführen, «wie viehl stückh vich jeder burger nach maßgaab seiner besizenden matten, äckher, reeben, waldung etc. halten dörffe». (zit. n. Weibel 1995, Anm-489).

Quellen und Literatur

  • Wolf, J. R.: «Bericht von dem wahrhafften und eigentlichen zustand und beschaffenheit der gemeind Wyach» Weiach 1735 (Signatur: StAZH A 135.4, Nr. 164; v.a. Ziff. VIII)
  • Schreiben von Obervogt Freiherr von Landsee vom 13. Juli 1782, S. 4f. (Signatur: StAZH A 199.7, Fasz. 2452)
  • Weibel, Th.: Historische Kurzbeschreibungen der Siedlungen im Neuamt. Zürich 1995 – S. 53-56; insbesondere Anmerkungen 468 und 489.
  • Illi, M.: Lemma «Weiach». In: Historisches Lexikon der Schweiz. Version vom 11.01.2015

Montag, 25. März 2024

Weiacher Eichenwälder im 19. Jahrhundert komplett abgeholzt

Ob der Raubbau im 16. Jahrhundert (der 1567 zur Einrichtung der Försterstelle führte, vgl. WeiachBlog Nr. 1667) oder die Übernutzung im 18. Jahrhundert den Eichenbestand massiv gefährdet haben, das wissen wir nicht sicher. 

Bekannt ist hingegen, dass der enorm hohe Brennholzbedarf der Soldaten im Zweiten Koalitionskrieg 1799/1800 entgegen alarmistischer Berichte nicht zur Ausrottung der Eichen führte (vgl. WeiachBlog Nr. 1620). 

Das brachten die Waldeigentümer dafür im späteren Verlauf des 19. Jahrhunderts zustande: Völliges Verschwinden der Eichen aus den Weiacher Wäldern innerhalb von nicht einmal 80 Jahren. Und dies nicht nur bei uns. Den Rafzer Eichen ging es im gleichen Zeitraum ebenfalls an den Kragen.

Was gut war für die Gemeindekasse (vgl. WeiachBlog Nr. 2022), das liess im Gegenzug die Bestände rapide abnehmen. So stark, dass sie beim Übergang ins 20. Jahrhundert praktisch völlig verschwunden waren. Jedenfalls waren sowohl in Weiach wie in Rafz nur noch weniger als eine halbe Hektare mit Eichenhochwald bestockt.

Dies kann man der Dezembernummer 1924 der Schweizerischen Zeitschrift für Forstwesen entnehmen, vgl. die nachstehende Abbildung:

In Weyach gab es 1821 insgesamt 94 Hektaren Eichen. 1858 waren es 83 ha. Dann forderte der Eisenbahnboom seinen Tribut, sodass 1880 nur noch 29 Hektaren übrig waren und 1900 NULL Hektaren vermerkt wurden.

Das kantonale Oberforstamt riss dann allerdings das Ruder herum und sorgte für die Wiederansiedlung der Eiche. Der Berichterstatter Meyer zeigt sich jedenfalls überzeugt, bereits die Zahlen von 1930 würden einen Anstieg zeigen.

Nimmt man die Bestände in der Amtszeit von Max Holenweg zum Massstab, dann waren diese Anstrengungen offenbar erfolgreich, vgl. WeiachBlog Nr. 224.

Quelle und Literatur

  • Meyer, K.A.: Eindrücke von der Kantonalen zürcherischen Ausstellung für Landwirtschaft und Gartenbau in Winterthur. In: Schweizerische Zeitschrift für Forstwesen, Bd. 75 (1924), Heft 12 - S. 373.
  • Brandenberger, U.: Weisst Du, wieviel Eichen stehen... WeiachBlog Nr. 224, 16. Juni 2006.
  • Brandenberger, U.: Eichen für das Gemeinwohl. WeiachBlog Nr. 446, 4. Mai 2007.
  • Brandenberger, U.: Hard bedeutet Eichenwald. WeiachBlog Nr. 631, 8. August 2008.

Samstag, 23. März 2024

«Das ortsansässige Handwerk und Gewerbe empfiehlt sich»

In der Jahreschronik 1962 von Walter Zollinger ist u.a. auch eine Inseratstrecke eingeklebt (s. Bild unten). Wo und wann sie einst publiziert worden ist? Leider ist das in den Zollinger'schen Typoskripten in aller Regel nicht angegeben, so auch hier.

Die vier Weiacher Gewerbebetriebe, die vor 62 Jahren Werbung für sich gemacht haben:

«A. Erb Mechanische Wagnerei, Schreinerei
Bock- und Schiebeleitern - Kücheneinrichtungen
Weiach
Telephon 94 21 25»  (ehemals Oberdorfstrasse 1)
  
«E. Wolf Schlosserei, Sanitäre Anlagen
Weiach Telephon 94 22 41
Offizielle Rapid-Vertretung. Service und Ersatzteile
Haushaltungsartikel
»  (ehemals Stadlerstrasse 6)

«Neubauten, Umbauten, Reparaturen
Gottlieb Griesser Hoch- und Tiefbau Weiach
Telephon 94 22 46» (ehemals Chälenstrasse 32)

«Bau- und Möbelschreinerei
Paul Schmid
Weiach
Tel. 94 22 70» (Winkelstrasse 3; heute asw-schreinerei.ch, Inhaber: André Schmid)

(Bl. 37r; Name der Zeitung und Publikationsdatum unbekannt)

Die Nummer für das «Telephon» war damals sechsstellig (statt wie heute siebenstellig) und fing mit der Ziffernfolge 94 statt 858 an. Und auch die Vorwahl war noch die ursprüngliche 051 (die heute den SBB zugeteilt ist). Innerhalb des eigenen Kreises konnte man die Vorwahl weglassen. Deshalb fehlt sie in diesen an die in der Region ansässigen Zeitungsleser gerichteten Inseraten auch.

Anlass für die Inseratstrecke dürfte das Zürcher Unterländer Jahresschwinget vom 11./12. August gewesen sein, das doch eine ganze Reihe von Besuchern angezogen hat, denen die vier Betriebe vielleicht noch nicht bekannt waren. Hier die Einladung (Bl. 18v):


Quelle
  • Zollinger, W.: Gemeinde Weiach. Chronik des Jahres 1962. Weiach, Sommer 1963 – Bll. 18v u. 37r [letztere unpaginiert]. Original in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich. Signatur: G-Ch Weiach 1962.

Freitag, 22. März 2024

Einen Jugendlichen dem Teufel aus dem Rachen reissen

Dass Teenager auf okkulte Abwege geraten, ist kein neues Phänomen, das auf unsere Postmoderne beschränkt wäre. Satanistische Praktiken hat es in Weiach auch vor 350 Jahren gegeben.

Den Vorfall findet man in der Doktorarbeit von Meret Zürcher, die das Thema des delinquierenden Jugendlichen bereits in den 1950er-Jahren aus historischer Perspektive bearbeitet hat. 

Auf den Hinweis darauf bin ich (noch vor den Zeiten von Google Books, wo man heute ebenfalls fündig wird) in Heinrich Hedingers Stoffsammlung über den Bezirk Dielsdorf und seine Gemeinden gestossen (vgl. das zwischen 1912 und 1970 entstandene Heft Nr. 25 Weiach; Signatur: StAZH X 211.1.31).

Einer Ziege das rechte Ohr abgehauen

Die Doktorandin handelt den Fall unter Kapitel VI. Religionsvergehen, A. Hexerei und Zauberei ab (S. 182):

«Interessant ist die „Tat“ des 17jährigen Heinrich Huser von Weiach der 1674 vor dem Stillstand daselbst gestand, dass er folgenden von einem Kameraden gelernten Trick angewendet habe, um beim Spielen stets zu gewinnen: Er habe einer Ziege in Teufels Namen das rechte Ohr abgehauen, drei Tropfen Blut davon auf die Hand genommen und ein Kreuz darin gezeichnet, dann das Ohr unter die linke Achsel in seinen Kittel genäht. Er wurde nach Zürich geschickt, damit ihm die Sache zu Herzen gelegt und er „dem höllischen Wolf aus dem Rachen gerissen werden möchte“, wo er nun im Oetenbach fleissig beten und arbeiten soll [Fn-284].»

Heute wäre wohl eher der Umstand relevant, dass da eine Ziege zu Schaden gekommen ist. Das ist nämlich als Tierquälerei im Sinne von Art. 26 des Tierschutzgesetzes zu werten und würde entsprechend geahndet werden (Strafandrohung: bis zu drei Jahren Gefängnis).

Damals sah man primär die religiösen Grundfesten in Gefahr: Nachdem der junge Huser bereits durch den Weiacher Stillstand verhört worden war (d.h. die Kirchenpflege unter Vorsitz des Pfarrers Hans Rudolf Seeholzer) ist diese lokale Sittenbehörde zum Schluss gekommen, das vorliegende Satanismus-Verbrechen müsse durch die hohe Obrigkeit beurteilt und bestraft werden. Nur mit einer Ermahnung war das nicht mehr zu erledigen.

Auch jugendliche Delinquenten landen im Zuchthaus Oetenbach

Deshalb findet man den Fall auch im Dossier «Kundschaften und Nachgänge betreffend Hexen, Lachsner etc., 1661-1682» Signatur: StAZH A 27.163 (März 1674), worauf die referenzierte Fussnote 284 verweist. Sie weist auch auf die entsprechende Fundstelle in den Ratsmanualen, Signatur: B II 565, fol. 86, hin.

Denn die Zürcher Regierung musste den sog. Nachgängern (Untersuchungsrichter) den formellen Auftrag zur Strafuntersuchung erteilen, wobei auch Anweisungen über die anzuwendenden Methoden (d.h. Folter ja od. nein) gegeben werden konnten. Welche das waren, ist ohne Besuch im Staatsarchiv nicht ermittelbar. Diese Serie ist auf der Ratsmanuale-Website des Staatsarchivs nämlich derzeit elektronisch noch nicht verfügbar (aktuell erst ab 1676).

Der Hinweis, dass man Huser nach erfolgter Strafuntersuchung ins Zuchthaus Oetenbach (bis 1525 war dort das Kloster Oetenbach) gesteckt hat und er dort arbeiten musste, kann ein Hinweis auf Verurteilung zum Schellenwerk sein (vgl, die Strafe im Fall Anna Balthassin aus dem Jahre 1682 in WeiachBlog Nr. 2043). Auf jeden Fall musste Huser sich wiederholt vom zuständigen Pfarrer ins Gebet nehmen lassen. Sonst war keine Entlassung möglich.

Quelle und Literatur

  • Zürcher, M.: Die Behandlung jugendlicher Delinquenten im alten Zürich (1400-1798). Dissertation Universität Zürich. Winterthur 1960 -- Bibliotheksnachweis: StAZH Df 255
  • Eine Zusammenfassung der Dissertation gibt der Beitrag derselben Autorin: Zürcher, M.: Die Behandlung jugendlicher Delinquenten im alten Zürich. In: Zürcher Taschenbuch, Bd. 84 (1964) – S. 50-68.
[Revidierte Fassung vom 23. März 2024, 01:05 MEZ]

Donnerstag, 21. März 2024

Der Weiacher Personalbestand der Schäftenäherei Walder

Wer an der Station Weiach-Kaiserstuhl aus dem Zug stieg, dem ist sie in früheren Zeiten noch viel eher aufgefallen als heutzutage, wo bald alles zugebaut ist wie in einer Stadt. Damals, vor über hundert Jahren, als die Liegenschaft Kaiserstuhlerstrasse 51 (heute Im See 2 benannt) gebaut wurde, da war das noch ganz anders. Denn dort stand die Schäftenäherei der Schuhfabrik Walder.

Die «Schäfti» war der erste richtige Industriebau auf Weiacher Boden. Ein Produktionsbetrieb, der in seiner anfänglichen Blütezeit Dutzende von Personen beschäftigte und der Fabrikgesetzgebung des Bundes unterstellt wurde. 

Mina Moser-Nepfer (1911-2017), die älteste Weiacherin aller Zeiten, hat dort während anderthalb Jahren gearbeitet. Das war gleich nach Abschluss ihrer Schulzeit ab 1925 (vgl. den Nachruf: WeiachBlog Nr. 1349). 

Zu diesen Jahren gibt die sog. Sichtkarte, die von den Eidgenössischen Arbeitsinspektoraten geführt wurde, keine Angabe. Man sieht aber deutlich, dass in den Boomzeiten der 20er-Jahre das Personal wesentlich zahlreicher im Einsatz war als 1929, dem Jahr des Grossen Börsencrashs:



In den 30er-Jahren sind die Mitarbeiterzahlen wieder deutlich gestiegen, jedoch längst nicht auf das Niveau von 1923! Den Tiefpunkt erreichten die Personalstärke in den beiden Kriegsjahren 1943 und 1944. Das hatte wohl auch damit zu tun, dass einerseits die deutschen Grenzgängerinnen nicht mehr über den Rhein pendeln durften und andererseits allfällig noch rekrutierbare Schweizerinnen in der Land- und Hauswirtschaft dringender gebraucht wurden als für die Schuhproduktion.

Dafür war dann kurz nach dem Krieg wieder die Arbeit von sehr viel mehr Händen gefragt. Die Frauen aus der deutschen Nachbarschaft konnten wieder beschäftigt werden. Und das erst noch zu tiefen Löhnen.

Quelle und Literatur

  • Eidg. Fabrikinspektorate. Sichtkarten von unterstellten industriellen Betrieben. Signatur: CH-BAR E7172B#1967/142#1547*.
  • Brandenberger, U.: In memoriam Mina Moser-Nepfer, 12.3.1911-27.7.2017. WeiachBlog Nr. 1349, 31. August 2017.
  • Brandenberger, U.: Als die Löschwasserversorgung das Bahnhofgebiet erreichte. WeiachBlog Nr. 2052, 13. März 2024.

Mittwoch, 20. März 2024

Ein Ölhändler darf kein öffentliches Amt bekleiden?

Auch ein klares Votum des Volkes für einen Sprengkandidaten ist noch längst keine Garantie dafür, dass dieser dann auch wirklich ins Amt eingesetzt wird. 

Rücktritt des alten Amtsträgers huldvoll akzeptiert

Unter dem Datum des 24. Novembers 1749 ist im Protokoll des Weiacher Dorfgerichts ein Wahlausgang festgehalten, der den zuvor demokratisch gefällten Mehrheitsentscheid sozusagen qua gerichtlichen Beschluss kurzerhand durch ein anderes Ergebnis ersetzt hat:

«Nach deme Heinrich Meyer sein dorffmeyer ambt auff zu geben von jhro gnaden, herr obervogten Freyherr von Landsee, in gnaden bewilliget, hat mann von seithen der beambteten undt deß gerichts zu einem neüwen dorffmeyer vollgendte in vorschlag gebracht, namblich: Heinrich Willi, richter; Jacob Baumgarter, Fridlis, richter; Caspar Schwartz, wirth, richter.»

Der Dorfmeier (bisheriger Amtsträger: Heinrich Meyer) war so etwas wie der offizielle Vertreter des Niedergerichtsherrn in der Gerichtsherrschaft Weiach (dem Fürstbischof von Konstanz, vertreten durch seinen Statthalter, den bischöflichen Obervogt Franz Honory von Landsee, mit Sitz auf Schloss Rötteln am nördlichen Brückenkopf bei Kaiserstuhl). Der Dorfmeier musste damals gleichzeitig Richter des Dorfgerichts sein.

Das Dorfgericht machte der Gemeindeversammlung den traditionellen Dreiervorschlag aus ihrer Mitte: Heinrich Willi, Jacob Baumgarter und Caspar Schwartz. Alle drei von Weyach.

Aufstand der Gemeindeversammlung: Sprengkandidat

Was dann passierte, wird nicht genauer erläutert. Der wohlhabende und entsprechend einflussreiche zürcherische Untervogt Bersinger, der immer mal wieder mit den fürstbischöflichen Amtsträgern die Klinge gekreuzt hat, scheint jedenfalls nicht ganz unbeteiligt gewesen zu sein, dass keiner der drei Vorgeschlagenen gewählt wurde, wie das eigentlich gebräuchlich war. Ein Affront. Dazu kam noch der Umstand, dass sich Bersinger (wir würden ihn heute als Gemeindepräsident bezeichnen) offenbar nicht hätte an der Wahl beteiligen dürfen (so zumindest die Ansicht des Gerichts):

«Weil nunn Jacob Bersinger, vogt, mit übrigen burgeren nicht in ausstandt tretten wollen, jst mann gleichwohlen mit vorbehalt hochfürstl[ichen] rechten in der wahl fürgefahren, wo dann zu einem dorffmeier durch mehrere stimmen worden.

Hans Hertzig, becken sohn, ist per meyoren von der burgerschafft zu einem dorffmeier erwohlt [!]. Weil er aber nit des gerichts, hat mann solcheß jhro gnaden, herr obervogten, zu referieren in verdanck genommen, vollglich dise wahl noch nit alß gültig erkent.»

Der Aufstand war perfekt: Hans Hertzig mit Stimmenmehr gewählt! Dieses Ergebnis würde man nun dem Herrn Obervogt von Landsee mitteilen müssen. 

Unanständiger Beruf ist ein Wahlhindernis!

Ob sich der Statthalter des Fürstbischofs dazu geäussert hat, ist nicht klar. Jedenfalls wurde der Gewählte mit einem Trick ausgebootet:

«Weill obiger Hertzig seines öhl-handels halber alß unanständig erfunden, alß ist durch deß undervogtens zuspruch zu einem dorffmeyer einhellig erkent obbemelter Heinrich Willi.»

Der hier erwähnte Untervogt ist nicht etwa der oben erwähnte Bersinger. Laut Thomas Weibel, dem Bearbeiter des Rechtsquellenbandes, dem wir dieses Seilziehen entnehmen können, handelt es sich um Joseph Mauritz Buol, den Untervogt des fürstbischöflichen Amtes Kaiserstuhl und späteren Bürgermeister der Stadt Kaiserstuhl (zweiter Vorname dem Urkundenbuch der Stadt Kaiserstuhl, S. 253 entnommen). 

Hier hat also ein Amtsträger der bischöflichen Seite eingegriffen und den nicht genehmen Hertzig gerichtlich abservieren lassen. Dass dem so war und nicht etwa die Gemeindeversammlung sich umentschieden hätte, zeigt sich an der Formulierung. Hertzig wurde zwar erwählt. Willi hingegen «erkent». Das ist die Tätigkeit eines Gerichts.

Und so erweist sich jemand, der seinen Lebensunterhalt (u.a.) als Ölhändler verdient, als unwürdig, ein öffentliches Amt zu bekleiden. Nun, die Gemeindeversammlung sah das mit Sicherheit anders. Den Weyachern dürfte schliesslich nicht unbekannt gewesen sein, was Hertzig beruflich so treibt. 

Quelle und Literatur

  • StAZH B VII 42.10 (fol. 28 v), Gerichtsprotokoll 1749.
  • Kläui, P. (Bearb.): Die Urkunden des Stadtarchivs Kaiserstuhl. Aargauer Urkunden Bd. 13 (AU XIII), Verlag Sauerländer, Aarau 1955 – S. 253.
  • Weibel, Th. (Bearb.): Wahl eines Dorfmeiers. SSRQ ZH NF II/1 (RQNA), Nr. 196. Aarau 1996 – S. 445.

Dienstag, 19. März 2024

Es gibt genügend Ortsmuseen! Wirklich?

Weiach hat ja bekanntlich seit 1968 ein eigenes Ortsmuseum. Auch das Städtchen Eglisau hat seit 1977 eins, das Weierbachhus. Und in Oberweningen findet sich sozusagen die Mutter aller Unterländer Ortsmuseen, das bereits 1936 eingerichtete Heimatmuseum des Zürcher Unterländer Museumsvereins

In unserer polyzentrischen Nachbargemeinde Stadel (mit den Siedlungskernen Raat, Schüpfheim, Stadel und Windlach) hat diese Beobachtung vor mittlerweile rund 40 Jahren dazu geführt, dass die Stimmberechtigten die Einrichtung einer eigenen Institution in dieser Richtung völlig entbehrlich fanden.

Das muss man zumindest einem Artikel der Neuen Zürcher Zeitung vom 22. Dezember 1984 mit dem Titel «Kein Ortsmuseum in Stadel» entnehmen:

«mth. Im Ortsteil Schüpfen in Stadel (Zürcher Unterland) wird es kein neues Ortsmuseum geben. Die mit rund 200 Anwesenden ausserordentlich gut besuchte Gemeindeversammlung lehnte nach sachlicher Debatte mit 107 gegen 87 Stimmen einen Antrag des Gemeinderates ab, für den Kauf der Liegenschaft Bucher 155 000 Franken bereitzustellen. Die RPK empfahl Ablehnung des Kreditgesuchs. Verschiedene Redner bekämpften den Antrag des Gemeinderates. Im Zürcher Unterland  selbst in der Nachbargemeinde Weiach  gebe es genügend Ortsmuseen, die rückläufige Besucherzahlen aufweisen. Auch seien die 55 000 Franken für die notdürftige Instandstellung des alten Dreisässenhauses zu niedrig bemessen. Andere Votanten setzten sich mit Vehemenz für den Erwerb des Hauses ein. Das ehemalige Bauernhaus als wichtiger Bestandteil des Weilers, wie es im Unterland kaum mehr zu finden ist, müsse als Zeuge der alten Zeit der Nachwelt erhalten bleiben. Davon liess sich die Versammlung nicht überzeugen und lehnte das Geschäft ab.»

Auf das Konzept kommt's an

In Schüpfheim hätte es also gestanden, das Stadler Museum. Gescheitert am Widerstand einer Rechnungsprüfungskommission und dem Argument, es würden sich ja gar nicht genügend Menschen dafür interessieren, die Tendenz sei sogar noch rückläufig. Wo die Votanten wohl diese Zahlen her hatten? 

Für Weiach traf und trifft das jedenfalls nicht wirklich zu. Zu den wenigen Anlässen im Jahreslauf, für die unser Ortsmuseum seine Türen öffnet, hat sich noch immer eine Besucherschar gefunden, die mit ihrem Interesse zeigt, was der wahre Wert einer solchen Institution ist. Denn da geht es letztlich um Identitätspolitik, den Kontakt mit den eigenen Wurzeln. Da sind Zahlen Schall und Rauch. 

Nur weil so ein Haus den Namen Ortsmuseum trägt, muss das noch lange nicht heissen, dass es davon zu viele gäbe. Es kommt ganz entscheidend auf das kuratorische Konzept an. Die Art, wie die zuständigen Personen die Sammlungen zu präsentieren verstehen, zählt dazu ebenso wie das Setting im Ort.

Zugpferd Gottfried Keller

In Glattfelden, unserer östlichen Nachbargemeinde, hat seit 1985 das Gottfried-Keller-Zentrum sozusagen die unique selling proposition – ihren berühmtesten Bürger, den Dichter und Staatsschreiber Gottfried Keller – zum Label erhoben. Das GKZ ist faktisch das Glattfelder Ortsmuseum, samt Dichterweg mit Erweiterung nach Kaiserstuhl und Schwarzwasserstelz. 

Man muss halt die richtigen Ideen haben, liebe Stadler! Und sie dann beherzt umsetzen. Wie in Oberweningen, Eglisau, Glattfelden und bei uns.

Schüpfen. Aber nicht im Kanton Bern

Und zum Schluss noch dies: Dass der Redaktor die Mundartform Schüpfen verwendet, ist einen besonderen Hinweis wert. Wenn man weiss, wer hinter dem Autorenkürzel «mth» steckt, dann wundert es einen nicht. Denn das entspricht dem auf diesem Blog schon mehrfach anzutreffenden «hhö». Der Verfasser ist also Hillmar Höber, für WeiachBlog-Leser kein Unbekannter, der jahrzehntelang für die Falkenstrasse aus dem Unterland berichtet hat.

Quelle  

Montag, 18. März 2024

Bautätigkeit dank Konjunktur und Kieswerk angekurbelt

Verglichen mit den 50er-Jahren hatte in Weiach punkto privater Bautätigkeit im Jahre 1962 so etwas wie ein Boom eingesetzt. Das konstatierte zumindest der Dorfchronist Walter Zollinger. Unter der Rubrik «Bautätigkeit/Handänderungen» berichtete er im Sommer 1963 über dieses damals völlig neue Phänomen:

«Wohl infolge der Hochkonjunktur und damit des besseren Verdienstes ist auch bei uns die Bautätigkeit etwas lebhafter geworden. Es können folgende Neu- und Umbauten ausgeführt oder doch begonnen werden:

E. Schmassmann, Kaiserstuhl
Umbau der alten "Schlosserei Rob. Meierhofer" im Bühl zu Wohnungen für Fremdarbeiter,

Arthur Hintermann-Willi Weiach
Einfamilienhaus an der Kellenstrasse
[Chälenstrasse 3], gegenüber der alten Schmiede,

Alfred Moser-Nepfer Bergstrasse
Einfamilienhaus am Flurweg hinter Haus Siegenthaler an der Bergstrasse,
[Buhaldenstrasse 6]

Ernst Pfenninger, Betriebsleiter im Kieswerk
Einfamilienhaus im Lee, an der mittleren Rebstrasse [heute: Leestrasse 23],

Gustav Meierhofer-Meier (Mesmerjokobe)
Einfamilienhaus an der untern Rebstrasse im Lee
[heute: Trottenstrasse 13],

Ernst Bösiger, Waldarbeiter
Innen-Ausbau im früheren Haus von Fritz Baltisser im Bühl,

Weiacher Kies A.G. Weiach
Erstellen eines Flusswasserpumpwerkes am Rhein für Kieswäscherei etc. und Bau einer eigenen Trafostation.


Daneben wurden wieder einige kleinere Garage- oder Schopfanbauten ausgeführt, nämlich:

Hans Schenkel-Albrecht Oberdorf
Siloüberdachung an der Winkelstrasse

W. Wagners Erben zum "Sternen"
Garageanbau am bestehenden Schopf,

E. Schenkel-Perathoner Kellen
Holzschopf nördlich des Wohnhauses,

Auch im Kieswerk hinten wird vorweg erweitert und gebaut, z.B. ein Verwaltungsgebäude, eine Kiesaufbereitungsanlage u.a.

Das Werk gedenkt nächstens über das Werden und Wachsen der Kies A.G. eine eigene illustrierte Schrift herauszugeben.
»

Damit sind dann auch die wirklich epochalen Baumassnahmen erwähnt, welche Weiach in den darauffolgenden Jahrzehnten stark beeinflusst haben. Erscheinungsbild, Steuerfuss, Image im weiteren Umkreis. Alles wandelte sich – und das neue Kieswerk trug entscheidend dazu bei – architektonisch durch die eigenen Bauten und durch Kiesentschädigungen an Private und Gemeinwesen, die das Geld ihrerseits wieder in Umlauf brachten.

Bei der illustrierten Schrift handelt es sich übrigens um den im ockernen Farbton der Kieswagen gehaltenen Band, vgl. WeiachBlog Nr. 986.   

Quelle
  • Zollinger, W.: Gemeinde Weiach. Chronik des Jahres 1962. Weiach, Sommer 1963 – Bl. 22 verso u. 23 recto. [Original in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich. Signatur: G-Ch Weiach 1962].
  • Brandenberger, U.: Das «Weiacher Kies»-Buch von 1963. WeiachBlog Nr. 986, 11. Februar 2011.

Sonntag, 17. März 2024

Zur Bildung des heutigen Dorfkerns im Mittelalter

Entscheidend für die Dorfentstehung am heutigen Standort des alten Dorfkerns dürfte die mittelalterliche Epoche in der ersten Hälfte des 13. Jahrhundert sein, in der Eglisau (durch die Freiherren von Tengen), Kaiserstuhl und Regensberg gegründet wurden.

Städtebau war damals mega-angesagt, ganz einfach deshalb, weil man als Hochadeliger nur so wirtschaftlich mithalten konnte. Wer da nicht mitmachte, der hatte gegen aufstrebende Städte wie Zürich schon verloren. Die neue Art von Ökonomie krempelte auch das Umland der neugegründeten städtischen Siedlungskerne völlig um, es entstand die Dreifelderwirtschaft, in Weiach mit den Zelgen zur Stadt (Kaiserstuhl), zum Hard und zum Berg (wie sie in späterer Zeit genannt wurden).

Als die alten Adelsfamilien noch Grundeigentümer waren

Noch zu Zeiten der Freiherren von Wart (Mitbegründer von Kaiserstuhl und Eigentümer von Rechten in Weiach bis 1295) waren schriftliche Aufzeichnungen nicht so entscheidend, wenn ein persönliches Unterstellungsverhältnis zwischen den leitenden Angestellten und/oder Pächtern und dem (in diesem Fall hochadeligen) Herrn bestand. Im Fall der von Wart ist es auch gut möglich, dass deren Urkunden und weitere Aufzeichnungen bei der Zerstörung ihrer Burgen untergingen. Dieser Burgenbruch war die Rache der Habsburger nach dem Mord an einem der ihren, König Albrecht I., am 1. Mai 1308 (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 102).

Nun wurden die ehemaligen Herrenhöfe aber sozusagen zu von unabhängigen Dritten betriebenen Profitcenters umgebaut. Diese Höfe mussten (neben dem variablen Zehnten) einen gewissen schriftlich fix festgelegten Ertrag abliefern, den man per Verbriefung auch auf andere Eigner übertragbar machte. Deshalb haben wir ab dieser Zeit schriftliche Quellen zur Verfügung, denn solche Wertpapiere liess man nicht nur von dem als Notariat fungierenden Dorfgericht aufsetzen, sondern bewahrte sie dann natürlich entsprechend sorgfältig auf.

Zelgensystem führt zu Verdichtung der Bauentwicklung

In den Zelgen wurde von den Eigentümern der Wertpapiere darauf geachtet, dass der Ertrag möglichst hoch ausfiel (besonders die Zehntenherren hatten da ein Interesse dran). Man musste deshalb auf Feldwege verzichten, was nur dank Flurzwang, d.h. enger Abstimmung zwischen allen Beteiligten bei Aussaat und Ernte, möglich war. So ist die Dorfgemeinde letztlich aus einer wirtschaftlichen Schicksalsgemeinschaft entstanden. Denn ohne erspriessliche Zusammenarbeit ging es allen schlechter.

Das dürfte auch der Grund dafür sein, dass bereits die Freiherren von Wart (die den Fronhof in Kellen sowie Twing und Bann über den Dorfteil am Mülibach innehatten) mit anderen Grundherren, bspw. den Freiherren von Regensberg (bis 1281) oder den Herren von Kloten (beide verkauften Landwirtschaftsbetriebe in Weiach ans Kloster Oetenbach in der Stadt Zürich; vgl. WeiachBlog Nr. 1309) übereingekommen waren, die Hofstätten und damit die Wohnhäuser in einem separaten, eng umgrenzten Gebiet zu konzentrieren, auch wenn dies weitere Wege zu den Bewirtschaftungseinheiten erforderte. Die Verdichtung war genauso gewollt, wie sie es heute staatlicherseits mit dem Trend zu Mehrfamilienhäusern ist.

Zu Beginn nur vier Höfe

Diese Ursprünge ihres Siedlungsgebiets waren den Weiachern vor drei Jahrhunderten in groben Zügen bekannt. Nur so ist es zu erklären, dass der damalige Pfarrer Wolf (Epitaph in der Kirchenmauer, vgl. WeiachBlog Nr. 193) in seinem 1735 erstellten «bericht von dem wahrhafften und eigentlichen zustand und beschaffenheit der gemeind Wyach» (StAZH A 135.4 Nr. 164) ausführt, anfänglich habe das Dorf Weiach nur aus vier Höfen bestanden und habe «vil hölzer und Wälder, aber nit vil güter» gehabt. [Mit Gütern sind die landwirtschaftlich genutzten Flächen gemeint.] Wegen der starken Zunahme der Bevölkerung sei dann aber über die Jahrhunderte hinweg viel Wald gerodet worden, und gegenwärtig bestehe Mangel an Holz. Viele Einwohner seien «wegen mangel der güteren und lebens‑mittlen» gezwungen gewesen, «in vilerley länder» zu ziehen (vgl. u.a. WeiachBlog Nr. 1928).

Vier Höfe bedeutet auch: Es gab ursprünglich vier Grossgrundbesitzer. Und diese bestimmten, was mit ihrem Land zu geschehen hatte. Der Flurzwang hielt das Dorf baulich in engen Grenzen. Er verhinderte die Entstehung von Aussiedlerhöfen, wie dem Ofen. Diese sind erst nach dem Ende des Ancien Régime entstanden, nachdem die Zelgen und mit ihnen der Flurzwang aufgehoben worden waren.

Literatur

  • Weibel, Th.: Historische Kurzbeschreibungen der Siedlungen im Neuamt. Zürich 1995 – Anm. 468.

Samstag, 16. März 2024

Geteilte Niedergerichtsbarkeit bereits im 14. Jahrhundert

Die Gerichtsherrschaft Weiach war ein Stachel im Fleisch des Zürcher Stadtstaates. An vielen anderen Orten gelang es den Zürchern über die Jahrhunderte hinweg, nach dem Hochgericht (der Landeshoheit) auch noch das Niedergericht (mit limitierter Bussenkompetenz) an sich zu ziehen. In Weiach hingegen behaupteten auswärtige Gerichtsherren bis zum Ende des Ancien Régime ihre Position. 

Deshalb hatte Weiach auch bis 1798 ein eigenes Dorfgericht. Den bisher ältesten bekanntgewordenen Hinweis auf dieses Dorfgericht verdanken wir Thomas Weibel (SSRQ ZH NF II/1, Nr. 193 Anm. 3), der aus dem Original wie folgt zitiert:

«Dis beschach ze Wiiach, da ze gegen waren:» (Quelle: StAZH C II 6, Nr. 769 vom 10. November 1352). 

Nach dieser Angabe des Gerichtsorts folgen die Namen der Zeugen, wobei hier allenfalls auch die Angehörigen der Richterbank aufgeführt sind, denn es sind ein paar Wiiacher dabei. 

Im November 1352 gab es zwei Gerichtsvorsitzende

Wo man bei Weibels Anmerkung noch zum Schluss kommen kann, dass immer nur ein Gerichtsvorsitzender die Leitung innehatte, da wird man bei der Lektüre des Regests (kurze Inhaltsangabe) in der offiziellen Sammlung der Urkundenregesten des Zürcher Staatsarchivs (1336-1460) eines Besseren belehrt: 

«Cuonrat Vogt, Schultheiss von Kaiserstuhl (Keyserstuol), sitzt im Namen des Bischofs Johans von Konstanz neben Johans Omo, Bürger von Kaiserstuhl und Vertreter des Freiherren von Tengen, zu Gericht [...]»  (URStAZH Bd. 1, Nr. 943) 

Da sitzt also ein Vertreter des Fürstbischofs, der gleichzeitig Kaiserstuhler Bürgermeister ist. Und direkt neben ihm sitzt ein anderer Kaiserstuhler Bürger, der einen Angehörigen des Hochadels vertritt!

Der alte Adel hält noch die Stellung

Die Herren von Tengen sind aus frühmittelalterlichem Adel. Sie waren mit viel Allodialbesitz ausgestattet, der insbesondere im heutigen Zürcher Unterland, im Schaffhausischen und im süddeutschen Hegau lag. Allod bedeutet: Das Land gehörte ihnen direkt, es war kein Lehen, das sie dem König verdankten und ihnen wieder entzogen werden konnte. Schon allein das zeigt den herausragenden Rang dieser Adelsfamilie, der einige Historiker attestieren, dass sie ihre Stellung noch aus der Karolingerzeit habe. Allerdings waren sie (wie viele andere Hochfreie in diesen Jahren) im Spätmittelalter bereits auf dem absteigenden Ast und mussten ihre Besitzungen nach und nach verkaufen.

Darstellung aus Karl Christian Sachs' Artikel von 1974 (S. 5; vgl. Quellen und Literatur)
Auf der Karte fehlt Schwarzwasserstelz, da Sachs den Ort Füsibach (= Fisibach) nicht zuordnen konnte (vgl. S. 4).

So ging beispielsweise 1363 das Schloss Schwarzwasserstelz (das auf einer Rheininsel am linken Ufer unterhalb Kaiserstuhl thronte) mit der Gerichtsherrschaft über Fisibach von den Herren von Tengen an den Fürstbischof von Konstanz.

Zwei Gerichtsherren mit gleichen Anteilen?

Völlig im Dunkeln liegt, ob die Anteilsrechte an der Gerichtsherrschaft Weiach gleich gross waren (wie es z.B. im 16. Jahrhundert der Fall war). Ebensowenig wissen wir darüber, wie die Herren von Tengen an diesen Gerichtsherrschaftsanteil gekommen sind. Es ist also nicht bekannt, ob sie (oder andere Hochadelige, wie bspw. die in Weiach bis 1295 begüterten Freiherren von Wart) einst das ganze Niedergericht über unser Dorf innehatten und später einen Teil davon an den Fürstbischof abtreten mussten, oder ob sie umgekehrt vom Fürstbischof als Co-Gerichtsherr akzeptiert wurden (wobei letzterer Verlauf als unwahrscheinlicher angenommen werden muss). 

Wie man in späteren Jahrhunderten anhand von vielen Urkunden feststellen kann, trifft dieses zweite Modell aber auf die Schaffhauser Patrizierfamilie Heggenzer zu. Sie waren zu einer Art bürgerlicher Nachfolger der Ministerialadeligen in Diensten des Fürstbischofs avanciert und konnten sich eine Hälfte des Niedergerichts über Weiach sozusagen als Geldanlage sichern, als ihr Dienstgeber wieder einmal dringend bare Finanzmittel brauchte. Wann dies der Fall war? Auch das liegt im Dunkeln. 

Bekannt ist jedoch, dass nach dem Aussterben der Heggenzer im Mannesstamm (im Jahre 1587) deren Erben, die Herren von Landsberg, im Jahre 1605 ihre Hälfte für 612 Gulden an den Fürstbischof veräussert haben (vgl. SSRQ ZH NF II/1, Nr. 188). Spätestens seit dieser Zeit gab es nur noch einen Gerichtsvorsitzenden. Den des Fürstbischofs.

Quellen und Literatur

  • Sachs, K. Ch.: Vom Herkommen der Edelfreien von Tengen. In: Küsnachter Jahrheft 1974 – S. 3-10.
  • Urkundenregesten des Staatsarchivs des Kantons Zürich 1336-1460. 7 Bände. Zürich, 1987-2007. Band 1: 1336-1369. Zürich 1987 (Brupbacher, D.; Eugster, E.)
  • Weibel, Th.: Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen. Die Rechtsquellen des Kantons Zürich. Neue Folge. Zweiter Teil: Rechte der Landschaft; Erster Band: Das Neuamt. Aarau 1996 – S. 439. (SSRQ ZH NF II/1, Nr. 193 Anmerkung 3)
  • Walliser. P.: Allod. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 04.06.2002.
  • Brandenberger, U.: Die älteste Erwähnung des Weiacher Dorfgerichts. WeiachBlog Nr. 1752, 28. September 2021.

Freitag, 15. März 2024

Erster Weiacher Viehmarkt 1877. Nur für sportliche Käufer!

Im Artikel von gestern Donnerstag wird behauptet, die Tradition mit den Viehmärkten auf Weiacher Boden habe sich ab 1877 entwickelt. Hier wird der Beweis nachgeliefert.

Am 5. Juli 1877 erschien das nachstehend abgebildete Inserat in der Neuen Zürcher Zeitung. Darin kündigt der Gemeinderat Weiach ehrerbietig an, ihm sei «von Seite der hohen Regierung» bewilligt worden, jährlich vier Viehmärkte zu organisieren. Abgestimmt auf die bereits bestehenden Termine sollten drei dieser vier Markttage jeweils auf den zweiten Donnerstag fallen: im Frühling, Sommer und Winter. Nur der Herbsttermin wurde auf den ersten Dienstag im September gelegt.

Marktplatz beim Gasthof Sternen

Zum Veranstaltungsort heisst es im Inserat: «Der Marktplatz befindet sich vorüber dem Gasthof zum Sternen, und ist derselbe nur 7 Minuten von der Eisenbahnstation Weiach-Kaiserstuhl entfernt.» 

Damals verlief die Hauptstrasse noch in einer scharfen Kurve nahe den heutigen Einmündungen von Büelstrasse und Chälenstrasse in die Stadlerstrasse am «Sternen» vorbei, d.h. es gab den Sternenparkplatz noch nicht. Wenn man sich diese Platzverhältnisse vergegenwärtigt, dann wird klar, dass der Viehmarkt auf einer der Wiesen nördlich der damaligen Strasse abgehalten wurde, wohl etwa dort, wo heute nur noch asphaltierter Raum ist.

Und wie es die Höflichkeitsformen vor 150 Jahren geboten, schliesst der Text mit: «Käufer und Verkäufer werden zum Besuche auf's Freundschaftlichste eingeladen.»


Eilmarsch angesagt

7 Minuten von der Eisenbahnstation bis zum Sternen? Da muss man sich schon ziemlich sputen. Und ein Eilmarsch-Tempo anschlagen. Mit gemütlichen 4 km/h wird das nichts. Dann hat man für diese Strecke von rund eintausend Metern eine Viertelstunde. Wer das vollmundige Versprechen des Gemeindraths für bare Münze nimmt, der muss 8375 Meter pro Stunde marschieren können.

In Rekordzeit vom Antrag zur Bewilligung

Dass der Gemeinderat tatsächlich das Plazet der Regierung hatte, kann man übrigens in einem Regierungsratsbeschluss (RRB) nachlesen. In der Archivdatenbank des Zürcher Staatsarchivs findet sich sowohl der Scan des handschriftlichen Originalprotokolls (ein Musterbeispiel schon fast kalligraphisch zu nennender Schreibkunst), als auch die Transkription:

«Der Gemeindrath Weiach stellt mit Eingabe vom 15. Jenner das Gesuch, es möchte der Gemeinde bewilligt werden, jährlich 4 Viehmärkte abzuhalten. Zur Begründung desselben führt der Gemeindrath an: 

In der Gemeinde Weiach und deren Nachbargemeinden werde vorzüglich Viehzucht betrieben; um nun letztere mit Vortheil betreiben zu können, sei ein größerer Absatz unbedingt nothwendig, welcher hauptsächlich durch Viehmärkte erzielt werde. Für Abhaltung von Märkten eigne sich die Gemeinde sehr gut, indem dieselbe kaum 10 Minuten von der Eisenbahnstation entfernt sei. Als Tage, an welchen die Märkte abgehalten werden sollen, bezeichne der Gemeindrath der 2. Donnerstag im März, der 2. Donnerstag im Juli, der erste Dienstag im September und der zweite Donnerstag im Dezember.

Der Bezirksrath Dielsdorf findet in seinem Gutachten vom 16. Februar die angeführten Gründe vollkommen richtig und beantragt deshalb Entsprechung des Gesuches.

Der Regierungsrath, nach Einsicht eines Antrages der Direktion des Innern, beschließt:

1. Der Gemeinde Weiach wird die Bewilligung ertheilt unter Beobachtung der gesetzlichen Vorschriften 4 Viehmärkte und zwar je den 2. Donnerstag im März, den 2. Donnerstag im Juli, den 1. Dienstag im September und den 2. Donnerstag im Dezember abzuhalten.

2. Mittheilung an den Bezirksrath Dielsdorf & den Gemeindrath Weiach, an letztern durch Zustellung einer Bewilligungsurkunde.»

Ist das nicht bemerkenswert? Vom Antrag bis zum Gutachten des Bezirksrats Dielsdorf verstrich gerade einmal ein einziger Monat. Von diesem 16. Februar bis zum Tag des Regierungsratsbeschlusses am 24. Februar nur 8 (!) Tage, Wochenende inklusive. Von wegen «Staatsmühlen mahlen langsam». Da kann sich die heutige Bürokratie punkto speditiver Behandlung noch eine Scheibe abschneiden.

Gute Vorbereitung ist das A und O

Schon deshalb sollte man diese Bewilligungsurkunde, sofern sie im Gemeindearchiv noch aufzufinden ist, eigentlich fast einrahmen und zusammen mit dem RRB an die Wand des gemeinderätlichen Sitzungszimmers hängen. Darüber der Satz: «Gute Vorbereitung ist das A und O effektiver Regierungstätigkeit». Denn daran, dass dieser Antrag so sec durchgegangen ist, ist der Gemeinderat Weiach nicht unschuldig. Der hat nämlich seine Hausaufgaben in Recherche und Vorabklärungen mustergültig erledigt. An die grosse Glocke hängen muss man das nicht. Aber es muss einem bewusst sein.

Quellen

Donnerstag, 14. März 2024

Am zweite Dunschtig im März isch z'Weych Vehmärt

Traditionell seit 1877 wurde in Weiach jeweils am zweiten Donnerstag im März ein Viehmarkt abgehalten. Die Ankündigung dazu fand sich im Jahr 1904 sogar in der Neuen Zürcher Zeitung:


Man sieht, dass die Viehhändler in unserer Umgebung ziemlich zu tun hatten. So standen im März vor 120 Jahren nacheinander auf der Liste: Zürich-Affoltern am 7.3., Kloten 9.3., Weiach 10.3., Zurzach 14.3., Regensberg und Rorbas 15.3., Rafz 19.3., Eglisau 21.3, Embrach 22.3., Dielsdorf 23.3. und Niederglatt am 29.3.

Über den Viehmarkt vom 1. März 1904 in Wil SG berichtet die NZZ gleich anschliessend an obigen Ausschnitt, er sei «schwach befahren» gewesen und: «Es galten: Kühe 340–740 Fr., Rinder 260–620 Fr. und Ochsen 240 bis 670 Fr.». 

Dass das recht viel Geld war, zeigt die Umrechnung von Swistoval.ch (2009 ist das neueste verfügbare Zieljahr):

Quelle

Mittwoch, 13. März 2024

Als die Löschwasserversorgung das Bahnhofgebiet erreichte

Am heutigen Datum vor 100 Jahren hat der Regierungsrat des Kantons Zürich einen Beitrag an die Erweiterung der Löschwasserversorgung im Gebiet um den Alten Bahnhof Weiach–Kaiserstuhl genehmigt. 24 Prozent der anrechenbaren Kosten von rund 25'000 Franken gingen auf die Staatsrechnung.

Mit der 1922 abgeschlossenen Verlängerung der Haus- und Löschwasserversorgung aus dem Jahre 1877 vom Weiacher Dorfkern nach Nordwesten war auch die Installation von acht Hydranten verbunden, wie der Regierungsratsbeschluss verrät.

«... in keiner Weise gegen Brandschaden geschützt ...»

Die Nordostbahn hatte in den 1870ern zur Versorgung des Stationsgebäudes einen eigenen Sodbrunnen gegraben und wurde für diese teure Investition in den Zeitungen getadelt (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 31). 

Viel mehr als das Wasser aus eigenen Fassungen gab es in diesem Gebiet nicht. Im Brandfall war das ein Problem. Die kantonale Gebäudeversicherung hat deshalb mit immer grösserem Nachdruck den Ausbau des Löschwassernetzes gefordert.

Nahe dem 1876 in Betrieb genommenen Stationsgebäude war nämlich seit 1904 eine grosse Sägerei entstanden (die heutige Holz Benz AG).

Besonders akut wurde das Brandschutzthema, als dann 1921 auch noch das Fabrikgebäude vis-à-vis der Station in Betrieb ging. Dort war eine Schäftenäherei des Schuhherstellers Walder in Brüttisellen eingerichtet worden.

Im Jahre 1923 arbeiteten in der «Schäfti» laut Archivalien der Eidg. Fabrikinspektorate 67 Personen (viele davon Grenzgängerinnen aus dem benachbarten südbadischen Gebiet).

Diese Mitarbeiter und Gebäudewerte von über einer halben Million Franken konnten ab 1922 im Brandfall besser geschützt werden.

Befehl: Bestückung Schlauchdepot ergänzen!

Der Wasserdruck vom Reservoir an der Bergstrasse her war zwar nicht berauschend. Der Bericht der kantonalen Gebäudeversicherung befand dennoch die Leistungsfähigkeit der neuen Anlage als «den Verhältnissen entsprechend» ausreichend. Verlangte aber die Ergänzung des Schlauchdepots der Weiacher Feuerwehr beim Stationsgebäude um mindestens einen weiteren Schlauch.

Hier der Beschluss im vollen Wortlaut:



Quellen und Literatur

  • Wasserversorgung. Regierungsratsbeschluss vom 13. März 1924. Signatur: StAZH MM 3.38 RRB 1924/0564
  • Eidg. Fabrikinspektorate. Sichtkarten von unterstellten industriellen Betrieben. Signatur: CH-BAR E7172B#1967/142#1547*.
  • Brandenberger, U.: Ein Sodbrunnen stösst sauer auf. 125 Jahre Haus- und Löschwasserversorgung Weiach (1877–2002) Teil 2. Weiacher Geschichte(n) Nr. 31. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, Juni 2002 – S. 13.