Über Artikel im WeiachBlog haben sich in den letzten Monaten etliche Weycher ziemlich echauffiert. Öffentlich einsehbar wurde mir ins Stammbuch geschrieben, ich solle doch besser wieder nur geschichtliche Themen anfassen und mich nicht mehr in die kommunale Politik einmischen.
Wer so etwas von sich gibt, der verkennt, dass an der Wiege aller auf Weiach bezogenen publizistischen ortshistorischen Aktivitäten des Autors dieser Zeilen letztlich ein Skandälchen steht. Eines, das der Gemeindeverwaltung einen Sturm der Entrüstung eingetragen hat. Heute, in Zeiten von Social Media, würde man das wohl «Shitstorm» nennen.
Man würde es kaum glauben, aber der Stein des Anstosses war ein Dokument aus einer Sammlung historischer Rechtsquellen, die seit 1898 unter dem Patronat des honorablen Schweizerischen Juristenvereins herausgegeben wird.
Tänked doch au a d'Chind!
Im Dezember 1997 haben sich einige Einwohner darüber aufgeregt und auf der Verwaltung beschwert, dass ein 1612 entstandenes Gerichtsprotokoll im Mitteilungsblatt abgedruckt worden war. Genauer gesagt: die Transkription desselben im Rahmen eines Bandes dieser Rechtsquellensammlung. Überschrift: «Prozess wegen Reden über exhibitionistisches Verhalten eines Dorfbewohners». Und so etwas geht natürlich gar nicht. «Ein Bericht über einen Grüsel!! Im Mitteilungsblatt!! Sie, das lesen auch Kinder!!»
Expliziter Schweinkram im Gmeindsblettli? Nun, das kann man in guten Treuen so sehen (vgl. den Volltext hier). Aber wenn man diesen Fall analysiert (vgl. WeiachBlog Nr. 738), dann ist wohl eher darüber zu diskutieren, ob der Skandal letztlich nicht der ist, dass die damalige Zürcher Regierung diejenigen Weiacher Frauen, die mit ihren unbedachten Worten den ganzen Aufruhr verursacht hatten, mit hohen Bussen bestraft hat. War das nicht eine frauenfeindliche, patriarchale Machtdemonstration?
Sei es, wie es sei. Jedenfalls ist die von April bis Dezember 1997 durchgezogene Serie (vgl. Abschnitt Nachweis ganz unten) durch diese Demarchen zu einem abrupten Stopp gekommen. In den MGW wurden nach diesem Eklat, der der Redaktion offensichtlich auf den Magen geschlagen hat, nur noch drei weitere Beiträge veröffentlicht. Dann war Schluss.
Die Geburtsstunde der Weiacher Geschichte(n)
Für mich hingegen war dieser Eklat letztlich die Geburtsstunde der Idee, Quellen mit dem richtigen Kontext versehen in den Mitteilungen für die Gemeinde Weiach publikationsfähig zu machen. Was mit den Weiacher Geschichte(n) über zehn Jahre hinweg (Dezember 1999 bis November 2009) doch ganz gut geklappt hat. Zumindest habe ich keine Beanstandungen inhaltlicher Art mitbekommen.
Doch zurück zu den Rechtsquellen, die für die Weiacher Ortsgeschichte höchst ergiebig sind. Und so sind denn auch Bezeichnungen wie «SSRQ ZH Neuamt (RQNA)» oder einfach nur «RQNA» (Kürzel für «Rechtsquellen Neuamt») in meinen Publikationen zu diesem Thema regelmässig anzutreffen.
Der Rechtsquellenband Neuamt, erschienen 1996
Dieser Band wurde im Spätherbst 1996 präsentiert und jede Gemeinde im ehemaligen Neuamt erhielt ihr Exemplar, auch Weiach.
Die zur Buchvernissage eingeladenen Medien haben darüber geschrieben. So die NZZ am 10. Dezember 1996, deren Beitrag hier im vollen Wortlaut in kursiver Schrift wiedergegeben wird. Verlinkungen und Anmerkungen in eckigen Klammern stammen vom Redaktor des WeiachBlog:
«lob. Unter dem Titel «Rechte der Landschaft: Das Neuamt» ist dieser Tage ein Zürcher Beitrag zur «Sammlung schweizerischer Rechtsquellen» erschienen: Thomas Weibel, Mitarbeiter der Rechtsquellenstiftung des Schweizerischen Juristenvereins, hat während mehrerer Jahre Quellen über die Obervogtei Neuamt zusammengetragen und auf 495 Seiten veröffentlicht. Das Neuamt, ein ausgesprochenes Ackerbaugebiet, war ein Landstreifen von fünf bis zehn Kilometern Breite, der sich westlich der Glatt von Oberglatt bis zum Rhein erstreckte. Auf dem Gebiet liegen heute ganz oder teilweise zwölf Gemeinden: Bachs, Dielsdorf, Glattfelden, Hochfelden, Höri, Neerach, Niederglatt, Niederhasli, Oberglatt, Regensdorf, Stadel und Weiach. [Bachs: Höfe im Thal; Dielsdorf: Ditikerhof; Glattfelden: Schachen; Regensdorf: Adlikon; Oberglatt und Niederglatt: nur Gebiete westlich der Glatt; vgl. Wikipedia-Artikel: Obervogtei Neuamt]. Neben einer Gerichtsordnung und Huldigungen gegenüber dem Bischof von Konstanz finden sich im Quellenband beispielsweise auch Zeugenaussagen zu Grenzverläufen und Schiedssprüche.
Erstaunliche Quellenvielfalt
1424 erwarb die Stadt Zürich die Grafschaft Kyburg als Reichspfand. Im Hinblick auf ein Bündnis mit König Friedrich III. von Österreich im alten Zürichkrieg 1442 musste Zürich aber alles ausser einem schmalen Streifen westlich der Glatt wieder zurückgeben. Sie machte aus dem Gebiet einen gesonderten Verwaltungsbezirk unter dem Namen «Neuamt». In Neerach, wo sich eine Hochgerichtsstätte befand, bildete Zürich das Verwaltungszentrum, später führte Zürich die Dorfverfassung Neerachs [korrekt: Offnung des Twinghofs zu Neerach, mit viel grösserem Einzugsgebiet] über in ein Amtsrecht für die ganze Obervogtei Neuamt. 1553 erhielt das Amt eine Gerichtsordnung. Die Bedeutung des Gerichts verlor aber ab dem 17. Jahrhundert an Bedeutung, weil die Obervögte in Zürich die meisten Prozesse bereits erstinstanzlich behandelten. Noch vor dem 15. Jahrhundert hatten in der Vogtei Neuamt beinahe überall örtliche Gerichtsherrschaften bestanden; bis 1600 gelangte die Stadt Zürich aber in den Besitz fast aller niederen Gerichte, was zu einer Rechtsvereinheitlichung führte [Konkret: mit Ausnahme von Weiach, wo dessen Niedergerichtsherr, der Fürstbischof von Konstanz, dies verhindert hat]. Bis dahin fand Thomas Weibel im Untersuchungsgebiet Rechtsquellen von einer erstaunlichen Vielfalt, was er auf die starke Zersplitterung der Besitz- und Herrschaftsrechte zurückführt.
Clausdieter Schott, Professor für Rechtsgeschichte an der Universität Zürich, würdigte am Montag in der Geigenmühle Neerach die Arbeit Weibels und forschte nach der Bedeutung der Begriffe Recht und Quelle: Während der römische Jurist Celsus [gemeint ist wohl Publius Iuventius Celsus, der Jüngere] das Recht verstand als die Kunst des Guten und des Angemessenen, heisst es im Sachsenspiegel: Gott ist selber Recht. Später stammte das Recht aus dem Volksgeist, im Positivismus ergibt sich das Recht aus dem Gesetz. Als Rechtsquelle versteht man laut Schott heute richtigerweise die Erscheinungsform des Rechts.
Ein gesamtschweizerisches Werk
Die Schweizerische Rechtsquellenforschung geht zurück auf den Juristentag am 4. September 1894 in Basel, als beschlossen wurde, die Rechtsquellen bis 1798 wissenschaftlich zu bearbeiten [vgl. Gschwend 2007, s. unten Literatur]. Die später gegründete «Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen» war kantonal gegliedert; innerhalb der Kantone unterschied man nach Stadtrechten und Landrechten, die letzten wiederum wurden unterteilt nach sogenannten Realfächern wie innere Verwaltung, Staat und Kirche oder Polizeiwesen. Nach über hundert Jahren Forschung umfasst die Reihe heute 84 Bände [2023: über 140 Bände], die Kantone Glarus und Zug sind schon gänzlich bearbeitet, Bern steht mit 22 Bänden vor dem Abschluss, in Zürich bestehen erst drei Bände. Durch die landesweite Bearbeitung soll eine handfeste Basis zur Rechtsvergleichung verschiedener Regionen entstehen. Die Bände enthalten nicht nur primäre Quellen wie beispielsweise Offnungen (eine Art Grundgesetz für ländliche Gemeinden), sondern geben auch Zugang zu weiteren Quellen wie Gerichtsurkunden, Ratsprotokollen oder Feuerstättenverzeichnissen. Angesprochen sind neben Rechtshistorikern auch Sprachwissenschafter und Kirchenhistoriker.»
Weshalb der Festakt zur Vorstellung des Rechtsquellenbandes gerade in der Geigenmühle in Neerach stattfand? Das gründet auf der überragenden historischen Bedeutung des sog. Twinghofs zu Neerach (vgl. Korrektur innerhalb des Lauftextes), dessen spätmittelalterliche Rechtsverfassung zur Grundlage des von den Zürchern weiterentwickelten Amtsrechts der Obervogtei Neuamt der Neuzeit wurde.
Literatur
Der NZZ kommt auch das Verdienst zu, Titel und Bezugsquelle, inkl. den damaligen Preis direkt unter ihrem Beitrag genannt zu haben: «Der Rechtsquellenband «Das Neuamt», 495 Seiten, bearbeitet von Thomas Weibel, kann zum Preis von 180 Franken bezogen werden beim Verlag Sauerländer AG, Laurenzenvorstadt 89, Postfach, 5001 Aarau. Historische Kurzbeschreibungen der Siedlungen im Neuamt gibt das Staatsarchiv heraus.»
Der Verlag Sauerländer (gegründet 1807) wurde 2001 verkauft und existiert nur noch als Lehrmittelverlags-Label. Die noch vorhandenen Buchbestände des Rechtsquellenbandes Neuamt werden heute durch den Schwabe-Verlag vertrieben (CHF 190).
- Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, I. Abteilung: Die Rechtsquellen des Kantons Zürich. Neue Folge, Zweiter Teil: Rechte der Landschaft. Band 1: Thomas Weibel: Das Neuamt. Aarau 1996 [Auflage: 300; Online: Scan der Nr. 222].
- Weibel, Th.: Historische Kurzbeschreibungen der Siedlungen im Neuamt. Zürich 1995 [Online auf der SSRQ-Website als Addendum zum Rechtsquellenband].
- Gschwend, L.: Die Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, herausgegeben von der Rechtsquellenstiftung des Schweizerischen Juristenvereins: Ein Monumentalwerk rechtshistorischer Grundlagenforschung. In: ZSR 2007 I 435-457. [Artikel vom 3. Mai 2007, pdf online auf SSRQ-Website].
- Weibel, Th.: Artikel Neuamt. In: Historisches Lexikon der Schweiz. Elektronische Ausgabe. Version vom 15. Juli 2009.
Quelle
- Einblick in mittelalterliche Rechtsstrukturen. Zürcher Rechtsquellenband über das Neuamt. In: Neue Zürcher Zeitung, Nummer 288, 10. Dezember 1996 – S. 53.
Nachweis RQNA-Nummern in MGW
Im Kapitel XVIII hat der Bearbeiter Weibel unter den Nummern 176 bis 201 die zu Weiach ausgewählten Rechtsquellen versammelt. Einen Teil davon hat die Gemeindeverwaltung in den Jahren 1997 und 1998 im Mitteilungsblatt (damals noch Mitteilungen für die Gemeinde Weiach; MGW) der Bevölkerung zugänglich gemacht:
Nr. 176. Hexenverfolgungen. In: MGW, April 1997 – S. 10-12.
Nr. 177. Gerechtigkeit des dorffs Wiach. In: MGW, Mai 1997 – S. 12.
Nr. 180. Holzordnung. In: MGW, August 1997 – S. 13-15.
Nr. 185. Bussenliste für Verstösse gegen die Gemeindeordnung. In: MGW, Oktober 1997 – S. 11.
Nr. 189. Gewährung des Gemeindebürgerrechts an den Käufer eines Hausteiles. In: MGW, November 1997 – S. 13.
Nr. 190. Prozess wegen Reden über exhibitionistisches Verhalten eines Dorfbewohners. In: MGW, Dezember 1997 – S. 11-13. (vgl.
WeiachBlog Nr. 738)
Nr. 197. Wahl eines zürcherischen Untervogts. In: MGW, März 1998 – S. 16. (vgl.
WeiachBlog Nr. 790 u.
990)
Nr. 184. Gerichtsordnung, Abnahme von Rechnungen etc. In: MGW, Juni 1998 – S. 7-8.
Nicht in den MGW erschienen sind die folgenden Nummern des Kapitels XVIII:
181. Zuständigkeiten der niederen Gerichtsherren.
182. Auseinandersetzungen zwischen Bauern und Taunern.
186. Einzugsbrief, Anteil der niederen Gerichtsherren am Einzugsgeld. (vgl.
WeiachBlog Nr. 1453)
187. Huldigung gegenüber dem Bischof von Konstanz.
188. Friedrich von Landsberg verkauft dem Bischof von Konstanz die halbe Gerichtsherrschaft Weiach.
191. Leistungen und Abgaben an das bischöfliche Amt Kaiserstuhl.
195. Gutachten der Landfriedenskommission über Klagen des Bischofs von Konstanz gegen den zürcherischen Untervogt.
198. Wahl eines Richters.
199. Verordnung über die Fertigung von Grundstückkäufen und Ausübung des Zugrechts.
200. Verleihung der herrschaftlichen Ziegelhütte.
201. Votum informativum und decisivum des Vorsitzenden des Dorfgerichtes.